Caroline Wahl: „Windstärke 17“

Windstärke 17 by Caroline Wahl
Windstärke 17

Wutbrausend, heimatlos an der Ostsee, zwischen allen Stühlen, einem neuen Ich entgegen.

Caroline Wahls zweiter Roman, nach 22 Bahnen, hat wiederum eine Zahl im Titel und heißt Windstärke 17. Handelte der erste Roman von Tilda, die sich um die jüngere Schwester Ida und ihre alkoholsüchtige Mutter kümmert und ihre ersten Schritte in Richtung Freiheit unternimmt, so nimmt der zweite Idas Jungerwachsenenzeit in Augenschein, nachdem die Mutter an einer Überdosis Schlaftabletten verstorben ist:

Während ich die Fröhlichstraße entlanglaufe, google ich, was »Arschloch« auf Norwegisch heißt: Drittsekk. Dann google ich »Entrümpelung«, vor allem weil ich den Blicken in den Fenstern nicht begegnen möchte. Den Blicken der Drittsekker, die sich das Maul zerreißen über die Tochter der toten Alkoholikerin aus dem traurigen Haus, die viel zu leicht bekleidet, in einem kurzen Rock, einer pinken Lederjacke und mit einer großen schwarzen Sonnenbrille trotz des grauen Himmels, einen kaputten, alten marineblauen Koffer hinter sich herzerrt und auf ihrem Handy herumtippt, anstatt freundlich zu grüßen. Immer am Handy, diese Generation.

Caroline Wahl schreibt auch in Windstärke 17 unverblümt, direkte, in Jungsprech, aber so konsequent und vehement, dass die Einfachheit, Schnellheit, Ungekünsteltheit Nähe zur Figur erzeugt, authentische Szenen erleben lässt, die hier und da in den Kitsch prallen, aber nur umso schneller wieder Fahrt aufzunehmen, hin in eine Richtung, in der nicht alles Schrott, kaputt, tot ist. Ida trägt ihr Los bemerkenswert. Dass sie lamentiert, versteht sich von selbst. Sie hat viele Gründe zu lamentieren. Ihre Mutter hat sich vor ihren Augen tot gesoffen, und bei den neu gefundenen Freunden auf Rügen scheint auch nicht alles in Butter zu sein.

[Mama] bleibt im Türrahmen stehen, während ich »egalegalegalegal« schreibe. Im Augenwinkel sehe ich, wie sie sich umdreht und die Tür schließt. Wie sie sich umdrehte und die Tür schloss. Ich hasse mich für dieses »Egal«. Ich hasse mich, ich hasse sie, und ich hasse alles. Sie wusste, als sie an diesem frühlingshaften Dienstag an meine Tür klopfte, dass sie gehen wird, und ich wusste es irgendwie auch. Ich habe »fjsodksnd« und »egalegalegalegal« aus dem Dokument gelöscht, »Scheißkuh« dringelassen. Und habe sie gehen lassen.

Wie unfertig, rabiat, obszön und kurz-stenosprachlich auch immer, die Wut trägt Windstärke 17, Ida intensiviert die Zeilen, das Auf und Ab rechtfertigt sich von selbst. Es gibt direkte Rede in Anführungszeichen und direkte Rede ohne Anführungszeichen. Die Symbolik verliert sich im Ungefähren. Die Sprache dampft sich zu einem Sparringpartner ein. Sie haut auf die Tasten, spürbar, denn zwischen sich und ihrer Welt bleibt eine Lücke. Sie sieht sich, entfernt. Sie beobachtet sich, durch eine Panzerglaswand hindurch:

Wir schauen uns dabei an, und keiner weicht dem Blick des anderen aus, Blickhalten scheint Teil des Fragespiels zu sein. Ich reiße meine sowieso schon großen Augen weit auf, um ihn zu irritieren und um das Spiel zu gewinnen, bei Tilda und Samara hat das immer geklappt. Amüsiert zucken seine Mundwinkel, und seine Nasenflügel flattern. Er rückt mit seinem Gesicht ganz langsam näher, bis sich unsere Nasenspitzen fast berühren. Unsere Nasenspitzen berühren sich.

Caroline Wahl schreibt über Ida in der Ich-Erzählweise, die eine Neuerung beinhaltet und in dieser Neuerung einem Joshua Groß aus Prana Extrem nicht unähnlich wird: sich selbst, seinen Körper, als Avatar seiner Gedanken auffassend. Sie entschließt, die Augen aufzureißen. Sie reißt die Augen auf. Diese minimale Zeitlücke verlängert, mikroskopisch, eine ungewohnte, oft nicht berücksichtigte Zeit zwischen Impuls und Handlung und lässt, ungewöhnlich für Narration, eine Zeitdehnung zu. Einzelne Szenen existieren so stroboskopisch illuminiert. Windstärke 17 schreibt einer neuen Subjektivität entgegen, trotzig, frech, rotzig, heftig, aber aus der Wucht dessen, dass es etwas mitzuteilen gibt.

Inhalt: 2/5 Sterne (Trauerbewältigung)
Form: 3/5 Sterne (neue, heftige Kurzsprache)
Komposition: 2/5 Sterne (zufriedenstellend vorhersehbar)
Leseerlebnis: 4/5 Sterne (Kitsch und authentische Emphase)

Kommentar verfassen