David Wonschewski: “Blaues Blut”

Kompromissloser Selbsterfahrungstrip in F-Moll.

Ausführlicher und detaillierter vielleicht hier: https://kommunikativeslesen.com/2022/…

In „Blaues Blut“ treibt David Wonschewski den Begriff selbsttherapeutisches Schreiben auf die Spitze, und zwar melodisch, rhythmisch, intensiv vom aller ersten Wort an. Er nimmt kein Blatt vor dem Mund, lässt alles raus, aber nicht wahllos, ungeformt, sondern in sich verdichtenden, amalgierenden Sequenzen und Stanzen in Oktaven- und Oratoriumsform. Das Ergebnis liest sich als Tour de Force einer Selbst- und Weltdestruktion, die so intensiv, voller Verve vonstattengeht, dass sie aus reiner Lebenslust entspringt. Was nämlich auf den 250 Seiten Roman und Prosatext geschieht, ist Brandschatzung, Atomisierung, das vivisektiererische Recycling, um einen Neuanfang zu ermöglichen, und dies in den besten Jahren der einsetzenden Midlife-Crisis Mitte vierzig:

„Doch du hast keinen guten Morgen und auch keinen wohlfeilen Abend und du bist auch kein Philosoph. Das wissen sie [die Mitmenschen] auch, ihnen ist klar, dass du kein Philosoph bist. Was sie allerdings nicht wissen ist, was du überhaupt bist, was du so treibst, weswegen sie dich Philosoph nennen, aus einer grotesken Hilflosigkeit heraus. Du warst einmal zwanzig Jahre alt und Soldat, du warst einmal fünfundzwanzig Jahre alt und Student, dann warst du dreißig Jahre alt und arbeitetest in Hotels, als Portier, als Nachtwache, als Putzkraft, beim Zimmerservice. Du verticktest Immobilien und lerntest in allerlei Branchen allerlei Kunden möglichst galant die Därme hinaufzukraxeln.“

David Wonschewksi: “Blaues Blut”
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