Brigitte Reimann: „Franziska Linkerhand“

Franziska Linkerhand

Liebe in Zeiten der Widersprüche … eine literarische Durchdringung

Die Liste der deutschsprachigen Nachkriegsromane, die sich eine epische Breite erlauben, sich nicht in Miniaturen erschöpfen, ist nicht lang. Bestimmt gehören Uwe Johnsons „Jahrestage“ und Elfriede Jelineks „Die Kinder der Toten“ dazu, auch Peter Weiss‘ „Die Ästhetik des Widerstandes“, Werner Bräunigs „Rummelplatz“ und Herta Müllers „Atemschaukel“. Im Falle des Versuches, eine solche Liste aufzustellen, müsste auch Brigitte Reimanns „Franziska Linkerhand“ aufgenommen werden. Reimann versucht in diesem außergewöhnlichen Roman das, was sich wenige getrauen, die Wirklichkeit poetisch zu durchbilden und die Zeit in Bilder einer Narration zu fassen:

Ich sah ihnen nach, ihren Schatten im verbrannten Gras, und mir war zumute wie manchmal am Bahndamm, nachts, wenn die Gleise und die federnde Erde einen Schnellzug melden … Gestöber von Funken, die vorüberfliegenden Fenster, Scherenschnitte von pendelnden Köpfen, ein Netz voll Apfelsinen, blaues Licht in einem Abteil, in dem Fremde schlafend reisen, mitgerissen werden, auf ein Ziel hin, das ich nicht kenne, also beliebige benennen kann, Punkt Ypsilon, und beliebig verlegen, immer weiter nach vorn, in die Ferne …“

Wie das Zitat zeigt, geht die Erzählerin nicht davon aus, dass sie die Wirklichkeit durchdringt. Sie kennt keinen Plan. Sie ist wie alle anderen ein Rohr im Wind, getragen, fortgerissen von den Gezeiten, den Bewegungen und geschichtlichen Dynamiken. Diese poetische Seinsweise erlaubt es ihr, ein dichtes Netz aus Assoziationen, Metaphern, Allegorien und lyrischer Durchdringung zu weben, in welches alles seinen Platz findet, mühelos. Die Erzählposition wechselt von der Ich-Erzählerin, zur auktorialen und wieder zurück zum personalen und Erzählselbst. Der Wechsel findet im Flug statt, mitten im Satz, unangekündigt, um die verschiedenen Facetten des vergesellschafteten Individuums zu beleuchten:

So war das damals. Ich ließ mich einfach fallen … Abends, wenn die Lichter aufflammten und das Warten anfing und Mr. Hyde durch die Straßen schlich … dann trennte sie sich von Franziska, die für ihren Professor schwärmte, sich mit Bauphysik plagte, Pläne für ein Theater entwarf, sie kannten sich nicht, sie wollten nichts miteinander zu tun haben, aber die Grenzen begannen zu verschwimmen, und manchmal, plötzlich hinausgeschleudert aus der glücklichen Beziehung zum Tag, fragte sie sich bang: Wer bin ich?

Reimann thematisiert in ihrem Roman nichts weniger als das Gleiten, Ineinander-Übergehen vom Öffentlichen und Privaten, namentlich wer Franziska für sich, in ihrer Liebe ist, und wer sie in Bezug auf gesellschaftliche Prozesse und Verantwortung zu sein beansprucht und auch wird. Die wechselhafte Erzählposition gibt dem Roman die Freiheit, alle Seiten der Protagonistin zu beleuchten, die als Architektin versucht, eine lebensfröhliche Stadt zu entwerfen und letztlich an Realpolitik und Mangelwirtschaft scheitert. Auf diesem Weg sucht sie das private wie das berufliche Glück und nimmt alles auf, verwandelt es in Geschichtlichkeit, im Durchdringen in akzeptierte gesellschaftliche Widersprüchlichkeit.

Ich war glücklich, als wäre ich aus meinem Lieblingstraum erwacht … die weiße Treppe, wir laufen hügelan, schwerelos, mit beflügelten Fersen. Eine Treppe, die Erwartung heißt … Ich war jetzt ganz wach, aber immer noch von dieser heftigen Freude erfüllt. Ich konnte die Sonne auf meinen Knien balancieren, und ich betrachtete meine Knie und Schenkel und Füße, den Fuß, den du zwischen deinen Händen gehalten hast …“

Am Ende ist „Franziska Linkerhand“ von Brigitte Reimann ein Liebesroman, der die sprachlichen Möglichkeiten ausschöpft, die Höhen und Tiefen des Daseins auszuloten. Reimann erzählt angst- und zwanglos. Sie lässt der Sprache freien Lauf und schöpft in jedem Absatz aus dem Vollen. Franziska Linkerhand erfindet sich bei jedem neuen Lesen erneut und erschafft eine literarische Figur wie Leopold Bloom, Mrs. Ramsey oder Ulrich, die als Spiegel ihrer Zeit und gesellschaftlichen Wirklichkeit und Möglichkeit fungiert.  

Ein Gedanke zu „Brigitte Reimann: „Franziska Linkerhand““

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