Ulrike Sterblich: „Drifter“

Drifter

Kurzweiliges Panorama über das Mögliche und Unmögliche, das Wahrscheinliche und Unwahrscheinliche im postmodernen Großstadtleben. Surrealistisch konstruktiv Verwirrung stiften.

Ungebremste Fabulierlust besitzt Seltenheitswert. Nur wenige trauen sich, einfach drauflos zu erzählen. Nur wenige lassen die Zügel schießen und geben ihren jeweiligen, sich ergebenden, spontan erscheinenden Einfällen nach. Nur wenige vertrauen ihrer Erzähl- und Wortschmiede- und Kompositionskunst so sehr, dass sie Plot, Bedeutung und Realismus gänzlich hinter sich lassen können, um sich ihrer Phantasie und Narration rückhaltlos hinzugeben. Ulrike Sterblich gehört, zumindest nach ihrem Roman Drifter, dazu.

«Keine Ahnung, kann ich nichts zu sagen.»
Nee, klar. Konnte [der Buchhändler] nichts zu sagen, was sollte er denn auch wissen? Von dem Buch, dem Hund, der Frau, von den Pferden, dem Gewitter und dem Blitz, der meinen besten Freund über die Rennbahn geschleudert, ihm die Haare versengt und sich auf seiner Haut eingebrannt hatte. Er wusste nur, was sein Computer ihm sagte, und der Computer sagte: Nein.

Sterblichs Ich-Erzähler heißt Wenzel Zahn, und dieser ist völlig außer sich. Sein Lieblingsautor, K:B Drifter, hat ein neues Buch herausgebracht, ohne dass er davon erfahren hätte. Es heißt „Elektrokröte“, und er hat es in den Händen einer geheimnisvollen Frau gesehen, die in der S-Bahn saß, ein goldenes Kleid trug und einen Zottelhund mit sich führte. Zu allem Überfluss verabschiedete sich die Frau mit einem in die Luft gemalten Blitz, der wenig später seinen besten Freund Marco Killmann, genannt Killer, trifft. Nach dieser Begegnung und dem Blitz ändert sich das Leben der besten Freunde schlagartig:

«Ja, Drifter. Elektrokröte. Das war der Titel des Buches. In der S-Bahn hatte ich eine Frau damit gesehen, Vica heißt sie, inzwischen arbeite ich für sie bei LosVideos, aber das Buch gibt es nicht, und sie tut so, als hätte sie damit nichts zu tun. Mein bester Freund, Killer, er wohnt jetzt [nachdem er seinen hochbezahlten Job aufgegeben hat] wieder in diesem Haus, in dieser Wohnsiedlung, wo wir herkommen, und Vica hat dort plötzlich lauter Wohnungen, sie hat sich da eingenistet, wie eine Fledermaus.»

Drifter von Sterblich zeichnet keine besondere Story aus. Ihre Story bleibt die geheimnisumwitterte Vica, deren Namen an Wicca erinnert, die Religion der Hexen. Vica bleibt im Hintergrund, taucht auf, wann sie will, tut, was sie will, entzieht sich jeder Logik, jeder Kausalität und spielt auf der Klaviatur der Weltmächte, dem Finanzwesen, den sozialen Medien, den Immobiliengeschäften. Vica erscheint wie ein Mephistopheles. Sie agiert ohne Agenda und provoziert Veränderung, Neuerung, innere wie äußere magische wie kryptologische Transzendenz:

Das Licht wurde gedämmt, ein Vorhang öffnete sich, und ein Kegelscheinwerfer erleuchtete eine Bühne. Im Scheinwerferlicht stand Vica. Sie trug ihr goldenes Kleid und sprach in ein großes Gesangsmikrofon, das nostalgisch, aber auch nach Hightech aussah: «Verehrteste Gäste. Ich freue mich außerordentlich über Ihr gut gekleidetes Erscheinen zu unserem ganz unbescheidenen Fest. Wir feiern damit die Eröffnung des Malabene&Friends Syndikat für Halbwahrheit und Trüffelzucht hier im Ranunkelring Nummer zweiundneunzig.»

In wohlgeformten Sätzen, schnell, auf den Punkt, witzig und viel Leichtigkeit gestaltet „Drifter“ ein besonderes, symbolisch-geschlossenes Panorama. Wer Genaues wissen will, liegt hier falsch. Es geht um die Zwischentöne, die Dissonanzen, die sich verbinden, das wortfeile Aufeinander-Beziehen von Allegorien, die verspielte Mosaike permutieren, die synchrone Erarbeitungen von Möglichkeiten, den Alltag umzugestalten, mentale Prozesse neu zu entfachen und Liebe wie Freundschaft im Spiel eines kosmopolitischen, multiperspektivischen Universums mit operettenhaften Jokern zu stiften. Drifter von Ulrike Sterblich schafft dies. Sie erzählt um des Erzählen willens und steht in der Tradition des surrealistischen, absoluten, absurden Romans wie Carl Einstein „Bebuquin“, André Bretons „Amour fou“, sein „Nadja“ oder Raymond Queneaus „Zazie in der der Métro“,nicht zu sprechen in der Gegenwartsliteratur von Leona Stahlmanns Diese ganzen belanglosen Wunder.

Ihre Raben begleitete Vica verhext den Text und versinnlicht Sinn. Literatur zum Entspannen und Weiterträumen.

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