Tonio Schachinger: „Echtzeitalter“

Echtzeitalter

Stilistisch unterfordernd, inhaltlich unzusammenhängend, kompositorisch unentschieden erlaubt Toni Schachingers Roman „Echtzeitalter“ ein geradezu atemberaubendes Lesetempo, das jeden Sinn und Zusammenhang mit Leichtigkeit abschüttelt.

Zur Schule zu gehen, heißt, mit Themen, Probleme konfrontiert zu werden, die überhaupt nicht im Interessenhorizont existieren. Die Klasse sitzt da und lauscht über Robert Musil, Anna Seghers, über Robert Walser und Adalbert Stifter. Sie muss André Gides „Die Falschmünzer“ lesen, wobei sich einzelne in Gedanken mit Computerspielen, Rauchen, Sex und Partys und Drogen beschäftigen. Till Kokorda, der Protagonist aus Tonio Schachingers Roman „Echtzeitalter“ gehört dazu:

[…] Till lauscht mit gebührender Langeweile, wie der [Klassenlehrer] Dolinar einige seiner Klassiker wiederholt, über das Verhältnis von Kirtagen und Hintern und darüber, dass es nicht reicht, manchmal hier zu sein, dass es notwendig ist, hier und nur hier zu sein, nicht im Park, nicht in anderen Klassen, nicht bei irgendwelchen Ablenkungen, sondern: «Hier, hier, hier … Verstehst du, was ich sage, Kokorda?»
Till blickt auf.
«Das glaube ich nicht! Sonst würdest ned nach irgendan Schas schreiben über irgendein deppertes Videospiel.»

Wie die Themen in der Schule kunterbunt, ungeordnet auf die Schülerschaft fliegen, wie keine Verbindungen zwischen Französisch, Chemie, Russisch, Sport und Informatik gezogen werden, genauso Potpourri-mäßig plätschert Schachingers „Echtzeitalter“ vor sich hin. Die Themen spielen keine Rolle. Wie auch? Der Protagonist weiß nicht, was er fühlt, wie er in Verbindung zu irgendetwas in der Welt steht, wer er ist, was er sein will, was er möchte. Ihm bleibt nichts übrig, als vor sich hinzudümpeln und mit seiner Freundin Feli Computer zu spielen:

„Till fängt ein Pferd. Feli tauft es Zelda. Till fragt, ob das nicht verwirrend ist, wenn die Prinzessin im Spiel auch so heißt. Feli sagt Nein. Feli ist beeindruckt davon, was Till alles machen kann, obwohl Till kein besonders guter Zelda-Spieler ist. Sie findet, dass Till lässig spielt. Einmal allerdings zu lässig, denn während Till auf Zelda reitet, wird er von einem Wächter getroffen, und Zelda fällt um und bleibt reglos liegen. Feli weint. Sie sagt: «Das ist genauso wie mit dem Pony damals!»“

Schachingers Schreibstil besitzt Chat-, Twitter- oder Twitch-Charakter. Kurz und bündig, so kurz und so bündig, dass das eher einem Morse-Code entspricht, der fast in Lichtgeschwindigkeit gelesen werden kann. Die Worte rattern an einem vorbei. Sie hinterlassen nichts: Subjekt-Prädikat-Objekt; Subjekt-Prädikat-Objekt ohne Konsistenz und Kohärenz, denn der Ich-Erzähler besitzt keine und so kann diese auch nicht dargestellt werden:

Überhaupt ist es schwer, zu wissen, was man genau fühlt, weil es ja nicht nur einfache Gefühle wie Traurigkeit und Wut und Erleichterung gibt, sondern all die Gefühle, die man zwar spürt, aber nicht in Worte fassen kann, all die Mini-Gefühle, die an vergangene Erfahrungen anknüpfen, an Muster, auf die man als Kind oft draufgeschaut hat oder Gerüche bestimmter Putz- oder Waschmittel.

Komposition: Fehlanzeige. Die Dinge reihen sich aneinander, unbestimmt, beliebig. Themen durchdringen sich nicht, laufen eher parallel nebeneinander her. Viele Figuren besitzen nicht einmal ein Äußeres wie das Schulgebäude keine Dreidimensionalität besitzt oder einen genauer bestimmt Ort erhält, außer dass es Steinlöwen vor dem Eingang hat, die bespuckt werden können. Typische Konjunktivformen werden im Indikativ gesetzt. Alles bleibt im Präsenz, doch wird es zeitlich dennoch beliebig rasch oder langgezogen.

Besonders auffällig und stilprägend für Tonio Schachingers Roman „Echtzeitalter“ bleibt das Wort „nicht“, das laut meinem E-Reader 1182 mal vorkommt, fast so oft wie „Till“ nämlich 1308. Nehme ich auch „kein“ hinzu, 289 mal, dann finde ich in dem Text mehr Verneinungen als Verweise auf die Hauptfigur, und das ist stimmig. „Echtzeitalter“ weiß nicht, was es will, wo es steht, was es von sich und der Welt hält, was es fühlt, sich wünscht. Alles ist so kompliziert, schnell und ändert sich. Alles, was ist, ist nur Ersatz, für das, was nicht ist. Was das aber ist, bleibt unklar, und so verpufft ein Text bereits im Moment seines Lesens und verschwimmt, so plötzlich, wie er aufgetaucht ist, im Buchstabenmeer des Vergessens.

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