Antje Rávik Strubel: „Blaue Frau“

Antje Rávik Strubel: „Blaue Frau“

Verstörende Hoffnungslosigkeit zwischen Ohnmacht und Flucht: Lesenswert.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2021…

Romane über Gewaltverbrechen pendeln zwischen Voyeurismus und Verzweiflung. Die ersteren beuten das Geschehnis aus, ob des Skandalons. Die zweiteren ergeben sich der Ohnmacht und gleichen einem Stoßgebet gen Himmel, es möge endlich Gerechtigkeit auf Erden obwalten. Die einen nehmen für sich in Anspruch, kein Blatt vor den Mund zu nehmen und den Schrecken zu pädagogisieren („Der Heimweg“ von Sebastian Fitzek), die anderen die emotionale Macht der Sprache für den Einspruch zu mobilisieren („Raum“ von Emma Donoghue). Von allen typischen Varianten gelingt Antje Rávik Strubel mit „Blaue Frau“ der bestmögliche Ausweg aus einer selbstgewählten Unmöglichkeit und ausweglosen Aufgabe: das Metalyrische.

„Abendsonne hat die Bootsschuppen, das Wasser und die algenüberspülten Steine erfasst. Blätter liegen im Sand, gelb durchsprenkeltes Grün der Birken. Die Stämme sind nass, die Flechten schattig von Feuchtigkeit. Die blaue Frau kommt vom Ufer herauf. Als die Röte nachlässt, bleibt ein Schimmer auf ihrem Gesicht zurück, verschiebt es, richtet es neu ein. Die Haut wie die Faltungen des Sandes. Sie erinnert mich an jemanden.“

Die blaue Frau ist ein Engel der Geschichte, der mit rückwärtsgerichtetem Blick die Zukunft erahnt. Sie begleitet die Protagonistin Adina auf ihren Weg quer durch Mitteleuropa, aus dem tschechischen Niemandsland nahe Harrachov über Berlin, die Uckermark, nach Finnland. Auf den Pelz gerückt wird ihr überall. Eine junge Frau als Freiwild, die eigentlich Geographin und Abenteuerin werden will, aber als letzter Mohikaner zumindest den Schmerz in einer drastischen Entscheidung zu überwinden sucht, den Schmerz, benutzt, missbraucht, geschlagen, beleidigt, eingesperrt und vergewaltigt worden zu sein.

„Trotz der Stille und der Kärglichkeit des weiß getünchten Raums mit den Spuren toter Mücken an der Decke war es schön. Vor dem Fenster lag Berlin. Die Stadt funkelte. Sie war zum Greifen nah. Also machte sie es sich bequem, den Kopf auf dem Pullover, um in Ruhe nachzudenken, und dachte an Rickie. Der Pullover war alt. Es war ihr liebster, ein Abenteuerpulli, der Pullover einer Naturforscherin. Sie hatte ihn auf all ihren Expeditionen getragen. Er war mitgewachsen.“

Zum Studium bedarf es aber eines Sprachzertifikats, und um dieses zu erwerben, bedarf es Geld, und um des lieben Geldes Willen verdingt sich Adina an einen Landbesitzer, der ihren Körper gewaltätigt eintauscht, um an kulturelle Fördermittel heranzukommen. Adina flieht nach Finnland, arbeitet illegal, beginnt eine Beziehung mit einem Politikwissenschaftler, der sie überredet auf einen Benefiz-Ball zu gehen, wo sie den Mäzen der kulturellen Fördermittel wiederbegegnet. Die Vergeblichkeit der Flucht kippt in ihr um. Sie möchte Rache nehmen, aber ihre Glaubwürdigkeit steht in Zweifel, weil sie illegal und eine Frau ist. Sie findet sich isoliert.

„Vor dem Fenster stand eine alte Laterne, in deren schmiedeeisernem Gehäuse sich Käfer an Fäden erdrosselt hatten, die seit dem Sommer dort zu hängen schienen. Sie klebten in einer dichten, grauweißen Wabe, die von der Glühbirne zum Gehäusedach reichte. Die Laterne flackerte manchmal, sprang aber nicht an.“

„Blaue Frau“ thematisiert Gewaltverhältnisse ohne Voyeurismus und nimmt Partei ohne Wehklagen. Der Roman bleibt nüchtern, rhythmisch, in einer ehernen Trotzigkeit, die eine Ästhetik des Widerstands erzeugt, eine Stärke im Beschreiben, Erfassen, Fokussieren entwickelt, die ihres Gleichen sucht. Der Blick in den Abgrund gelingt, indem er Fassungslosigkeit und Verzweiflung evoziert. Die blaue Frau steht zwischen den Welten, durstig nach Leben, sehnsüchtig nach Freiheit, neugierig aufs Offene, Unvermittelte, bleibt aber gebrochen im Schatten eines übermächtigen Leidens ohne Waffen und Möglichkeit, sich Recht und Gehör zu verschaffen. Unbedingt lesenswert, aber nichts für schwache Nerven und einen entspannten Nachmittag mit Tee und Gebäck.

Vorschlag: Direkt danach als Remedium „Die Fremde“ von Claudia Durastanti lesen und sich vorstellen, dass die Fremde Adina geworden ist, die alles zurücklässt, und dann „Echos Kammern“ von Iris Hanika, und sich vorstellen, dass Adina Sophonisbe ist (im Pseudonym) und ein Exil in New York gefunden hat, wie es der äußerst gelungene Roman von Strubel am Ende vermuten lässt.

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