Ayn Rand: “Atlas Shrugged”

Ayn Rand: "Atlas Shrugged"

Kompromisslos peinlich, irritierend interessant und doch am Ende blass.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2022…

Wer zu Ayn Rand greift, weiß, worum es geht. Es geht um die Faulen, die auf den Taschen der Produktiven liegen. Es geht um Objektivität, das Leistungsprinzip, um Egoismus und die Abscheu vor jedwedem Mitleid. „Atlas Shrugged“ oder, in der neuen Übersetzung, „Der freie Mensch“ ist aber ein Roman und kein Traktat, kein Pamphlet, kein Parteibuch, sondern ein Werk der Fiktion, geschrieben zur Erbauung und zur Unterhaltung. Es beschreibt eine fiktionale Welt, ohne inhaltlichen Bezug zur Realität. Lediglich Aristoteles kommt vor, die USA als Land, aber ohne Geschichte, aber dem Untergang geweiht:

„Doch als der Ort, der einst die Quelle dieser Flut gewesen war – New York City –, in der Ferne vor ihnen auftauchte, streckte er noch immer seine Lichter zum Himmel, trotzte noch immer der ewigen Finsternis, fast so, als würde er in einer letzten Anstrengung, in einem letzten Hilferuf, nun seine Arme nach dem Flugzeug ausstrecken, das seinen Himmel durchquerte. Unwillkürlich setzten sie sich auf, wie in ehrfürchtiger Aufmerksamkeit am Sterbebett dessen, was Größe gewesen war.“

„Sie“ ist die Protagonistin, Dagny Taggart, ihre Geschichte wird erzählt, eine Geschichte zwischen vier Männern. Alle vier Männer verehren, bewundern, verzehren sich nach ihr. Anders als in anderen Geschichten dieser Art verstehen sich die Männer untereinander aber, respektieren sich und ordnen sich gemäß ihrer eigenen Hierarchie aneinander unter, bis der erste und für sie berechtigste Mann feststeht. Um diesen roten Faden wird erzählt, was passiert, wenn eine Wirtschaft mehr und mehr in die Fuchtel von Politfunktionären gerät. Die Wirtschaft geht unter. Missstände fliegen auf. Korruption greift um sich. Mehr und mehr verschwinden die Reserven der Wohlstandsgesellschaft. Armut, Gewalt, Panik brechen aus.

„Die Lichter der Autos sausten durch die Straßen, wie Tiere, die in einem Labyrinth gefangen waren und verzweifelt einen Ausgang suchten, die Brücken waren mit Autos verstopft, die Zufahrten zu den Brücken waren Adern aus geballten Scheinwerfern, glitzernde Engpässe, die jede Bewegung stoppten, und das verzweifelte Kreischen der Sirenen reichte schwach bis in die Höhe des Flugzeugs. Die Nachricht von der durchtrennten Lebensader des Kontinents hatte die Stadt [New York] inzwischen vollständig erfasst, die Menschen verließen ihre Wohnungen, versuchten in Panik der sterbenden Metropole zu entkommen, suchten die Flucht, obwohl alle Straßen abgeschnitten waren und eine Flucht nicht mehr möglich.“

„Atlas Shrugged“ ist auf seine Art einzigartig. Es ist lang, verschwobelt, ausgreifend. Ewig lange Monologe stehen neben monumentalen Beschreibungen, kitschigen Liebesszenen und Wilder-Westen-Romantik. Kein Fettnäpfchen wird ausgelassen. Kein Klischee vermieden. Nur das Alleroffensichtlichste gilt. Dollarzeichen – wohin das Auge blickt. Ist es aber ein guter Roman? Lohnt er sich zu lesen?

„Rearden blickte Francisco an – und sah ein Gesicht, das seine Vorstellung davon, was die Reinheit eines einzigen Ziels mit einem menschlichen Antlitz anstellen konnte, übertraf: Es war das gnadenloseste Gesicht, das man erleben konnte. Er hatte sich selbst für rücksichtslos gehalten, aber er wusste, dass er diesem ebenen, nackten, unerbittlichen Blick, der für alle Gefühle außer der Gerechtigkeit tot war, nicht gewachsen war. Was auch immer sonst mit ihm los war – dachte Rearden – der Mann, der so schauen konnte, war ein Gigant.“

Wer seine Widerständigkeit gegen Manipulation, Polemik, gegen Simplifizierung und Banalisierung der menschlichen Existenz erproben möchte, wer seinen eigenen Geist einem Wechsel- und Stahlbad der Gefühle aussetzen möchte, wer schon immer wissen wollte, was sich viele nur nicht zu sagen trauen, weil es selbst in ihren eigenen Ohren zu banal klingt, der lese „Atlas Shrugged“ wie ein Kompendium für den schlechten Geschmack und die peinlichen Ausreden, die sich Menschen heimlich, aber nie öffentlich untereinander sagen. Ayn Rand wäscht ihre Schmutzwäsche öffentlich, und das ist mutig und waghalsig. Sie macht sich bis aufs Mark angreifbar und hat ein Buch geschrieben, das sich nicht darum schert, alles zwischen Aristoteles und Ayn Rand selbst für hinfällig zu halten. Wem dieses Selbstbewusstsein imponiert, wird „Atlas Shrugged“ lieben. Wen dieses Selbstbewusstsein schockiert, wird es sofort aufhören zu lesen. Wer es interessant findet, wird viele wunderbare Stunden im Selbstgespräch und mit Kopfschütteln verbringen, und sich fragen, war es nötig, dass dieses Buch geschrieben wurde? Scheinbar schon.

Ich gebe zwei Sterne, weil es zu lang ist (über zweitausend Seiten auf dem Kindle). Hätte es nur aus der Liebesgeschichte mit Hank Rearden bestanden, hätte ich vier von fünf Sternen gegeben wegen Unterhaltsamkeit und Absonderlichkeit. Die letzten zwei Drittel jedoch waren hanebüchen, anstrengend, durchmischt, bestehend aus fesselnden Stellen und langatmig sinnlosen Versuchen zu überzeugen, wo nichts überzeugen kann.

4 Gedanken zu „Ayn Rand: “Atlas Shrugged”“

    1. Nun, ich wusste von ihm und kannte den Titel des Buches – vielleicht über Peter Weiss oder Stefan Heym, diese Tagebücher von Volker Braun oder die Ästhetik von Lukacs. Ich weiß es nicht mehr so recht. Ich war dann selbst erstaunt, als ich im Internet den Volltext fand, wie gut das zu meiner Ahnung passte, dass sie diesen Klassiker im Grunde persifliert. Vollständig gelesen habe ich das Buch nicht. Ich kannte nur Auszüge.

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