Judith Hermann: „Wir hätten uns alles gesagt“

Wir hätten uns alles gesagt

… aber gesagt und erzählt wurde letztlich vielleicht nicht einmal Nichts.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2023/…

In ihrem neuesten Buch fasst Judith Hermann ihre Frankfurter Poetikvorlesung zusammen, die sie im Jahr 2022 gehalten hat. Der Titel lautet „Wir hätten uns alles gesagt“ und nimmt Bezug auf eine Stelle in ihrem Buch, wo die Ich-Erzählerin und ein gewisser Jon beinahe in einem Schlossmuseum eingeschlossen worden wären. Im Nachgang schreibt sie ihm:

„Ich schrieb, ich wäre ausgesprochen gerne ein ganzes Wochenende über mit ihm in einem Provinzschloss eingesperrt gewesen, ich schrieb, wie bedauerlich, wir hätten uns alles gesagt. Jon kommt oft darauf zurück. Er wiederholt das – wir hätten uns alles gesagt, er will von mir wissen, was das gewesen wäre: Alles. Das ist eine lustige Frage. Es ist unmöglich, ihm zu sagen, was Alles gewesen wäre, uns ist beiden klar, dass es zu dieser Offenbarung nicht mehr kommen wird.“

Die Stelle fasst das ganze Buch zusammen. Es umschleicht die Möglichkeit des Erzählens. Es greift nach Gegebenem, Geträumtem, Erlebtem, aber traut sich nicht über den Weg. Hermann bleibt verhalten. Sie erfindet, sucht einen Weg zwischen Sagen und Verschleiern, zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Erfundenem und Wahrem. Ein-Wort-Sätze, Andeutungen, ein unspezifisches „Alles“, als leeres Versprechen, das unpathetisch „lustig“ ist und einer „Unmöglichkeit“ preisgegeben wird. Das Versprechen verfing nicht. Es bleibt leer. Sprache bleibt leer. Sie will nicht mehr:

„Ich blieb in der Wohnung zurück, ich ging noch einmal durch die leeren Räume, aber es gab keine Geste und keinen Satz, der dem entsprochen hätte, was ich fühlte – wenn ich überhaupt etwas fühlte; ich möchte meinen, ich fühlte nichts. Dann zog ich die Wohnungstür hinter mir zu.“

Die Ich-Erzählerin durchwebt das Buch als leere Geste. Sie will über das Nicht-Erzählen erzählen, die Nicht-Wirklichkeit beschreiben, der Bedeutungslosigkeit Bedeutung beimessen. Dass dies nicht gelingt, weiß sie selbstredend selbst. Das Spiel verfängt nicht.

„Die Erzählerin meines sechsten Buches öffnet am Ende die Falle unter dem Schleppdach hinter ihrem Haus. Unklar, was sich darin befindet, nicht einmal mir ist das klar, aber ich ahne es, oder anders – ich weiß es, aber ich habe keine Worte dafür. Was immer es ist, es wird rauskommen, sich zeigen, sichtbar werden. Die Erzählerin wird es, außerhalb des Buches, nach seinem Ende, sehen und verstehen. Ich werde es sehen. Ich habe es gesehen. Und der Leser, wenn er ein geneigter Leser ist, auch.“

Judith Hermann spricht hier von ihrem Roman „Daheim“. Sie sagt offen aus, was ihren Stil, ihre Sprache, ihren Gestus auszeichnet. Sie verweist. Sie zeigt auf etwas außerhalb des Textes. Sie lässt die Fragen wie die Antworten offen. Sie überlasst die Arbeit der Imagination dem Publikum. Sie steht als Stellvertreterin in der Sprache, ohne sie zu beanspruchen. Ihr fehlen die Worte. Offener und klarer lässt sich ein schriftstellerisches Unterfangen nicht beerdigen. „Wir hätten uns alles gesagt“ … aber gesagt und erzählt wurde letztlich nicht einmal Nichts, denn das Nichts hätte ein Etwas negiert, wozu Hermann jede Entschlossenheit fehlt und scheinbar abhandengekommen ist.

Edmond Jabès mit „Buch der Fragen“ und „Das kleine unverdächtige Buch der Subversion“ erhob die Sprachverweigerung poetisch zur Kunst. Nach „Wir hätten uns alles gesagt“ wirkt es wie eine Erfüllung.

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