Juli Zeh: “Über Menschen”

Stilistisch tadellos – inhaltlich eine Ode auf Hass mit menschlichem Antlitz

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2021…

Dass Juli Zeh sehr gut schreibt, weiß jeder, der nur halbwegs mit der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur vertraut ist. Sie hält zurecht ihren Platz zwischen Marlene Streeruwitz und Sibylle Berg und steht im Schreibstil und sprachlichen Erfindungsreichtum ihnen wenig oder nichts nach. In ihrem Roman „Über Menschen“ schreibt sie über tagesaktuelle Ereignisse im Corona-Tagebuch-Stil. Sie schreibt über Black Lives Matter, über Maskenpflicht, das Prekariat, über die bundesdeutsche Parteilandschaft, über Gutmenschen, Werbekampagnen, über die Schwierigkeit Toilettenpapier zu kaufen etc … sie schreibt vor allem über eine Aussteigerin, die nach Brandenburg zieht und dort allerhand mit ihrem rechtsradikalen Nachbarn erlebt.

„Über Menschen“ ist in diesem Sinne eine tagesaktuelle Re-Imaginierung von Martin Heideggers Schwarzwald und seinen Lichtungen, Holzbänken und Holzwegen, und zwar im parteilich getreuen und sprichwörtlich problematischen Sinne. Ihre nüchterne Beschreibung von Ausländerhass mündet in einem „Jeder hasst irgendwen.“ Sie wurzelt sich zurück in ihre Heimaterde – Menschen seien eben nicht zu ändern, ihr In-der-Welt-Sein sei nun einmal fix. An vier Stellen im Text wird direkt auf Heidegger Bezug genommen, auf Theodor W. Adorno indirekt nur einmal, und selbstredend auf „Widersprüche seien auszuhalten“. Man wünschte sich, mehr AutorInnen und PhilosophInnen würden eine andere Stelle aus seiner Minima Moralia zitieren, nämlich:

„Wenn Philosophen, denen bekanntlich das Schweigen immer schon schwer fiel, aufs Gespräch sich einlassen, so sollten sie so reden, dass sie allemal unrecht behalten, aber auf eine Weise, die den Gegner der Unwahrheit überführt.“

Leider ist das Juli Zeh ganz und gar nicht gelungen. Am Ende sollen wir über jemanden eine Träne vergießen, der Portugiesen beleidigt, in Lichtenhagen nationalistische Parolen schrie und Steine warf, in Messerstechereien verwickelt ist und doch nur möchte, dass alle einfach da bleiben, wo sie hingehören. Widersprüche auszuhalten ist eine Sache. Sie als Rechtfertigungsgrund heranzuziehen, schieren Menschenhass endlich nicht mehr zu verteufeln, ist etwas anderes. Es fällt mir nach diesem Buch unendlich schwer, vor Juli Zeh keine Angst zu haben, auch wenn sie hundert Mal betont, dass sie gegen die Angst schreibt. Mir hat der Text eine solche eingejagt, dass es mir kalt über den Rücken läuft.

Rezensionen sollte man nur glauben, wenn die RezensentInnen das Buch auch zu Ende lesen. Ich habe es unter Pein getan und bleibe fassungslos, traurig, kopfschüttelnd zurück. Sprachlich einwandfrei, inhaltlich eine Katastrophe. Ich empfehle Ingeborg Bachmanns „Malina“ und Streeruwitz „Partygirl“ als direkte Weiterlektüre, um den ersten Schmerz zu lindern.

2 Gedanken zu „Juli Zeh: “Über Menschen”“

Kommentar verfassen