Marietta Navarro: „Über die See“

Marietta Navarro: „Über die See“

Unaufgeregt und doch intensiv … die Seefahrt als Allegorie für eine ruhende Kraft.

Wer eine Mischung aus Joseph Conrads „Herz der Finsternis“, Franz Kafkas „Der Prozess“ und Grusel-Gothic-Erzählungen wie Edgar Allan Poes „Das verräterische Herz“ zu schätzen weiß, einen leicht surrealistischen Stil à la André Breton wie in „Nadja“ genießt und dies alles aber in Ruhe zusammengefügt, aufgeschrieben, in seiner Schlichtheit beinahe an Thomas Manns „Meerfahrt mit Don Quijote“ erinnernd, lesen möchte, der ist mit Mariette Navarros Büchlein „Über die See“ sehr gut beraten:

„Als sie durch sie [die Schiffsmechaniker] hindurchschaut, spürt sie deutlich ihre müden Beine, aber sie hält sich nicht damit auf und bohrt sich [in ihrer Vorstellung] tiefer, bis auf den Grund des Schiffes. Dann folgt die letzte Bodenplatte, goldbraun wie Schuppen, und direkt darunter: ein großes Herz quicklebendig, ein riesiges Stück rotes Fleisch, das sich in dumpfen Schlägen zusammenzieht, die durch den Schiffsrumpf noch verstärkt werden. Sie sieht das Blut, das aus dem Herzen strömt und den ganzen Frachter von unter versorgt, ein Netz aus blauen und roten Adern, ein Gewebe aus Venen und Äderchen, damit das Schiff schwimmt.“

Das Schiff lebt in der Vorstellung der Kapitänin, die Mannschaft und sie, das Metall und die Winde, die Pumpen und Maschinen bilden eine Symbiose auf dem Meer. Sie fahren Container von A nach B. Sie fahren weit entfernt von jeder Küste, unter einem weiten Himmel, gelotst nur von elektronischen Signale, in diesem Falle um nach Pointe-à-Pitre auf Guadeloupe zu gelangen. Was sich in den Container befindet, spielt genauso wenig eine Rolle wie die Namen der Besatzung, der Kapitänin selbst – namenlos schippern sie pflichtbewusst ihre Ware von Küste zu Küste. Es gibt nur diesen stählernen Rhythmus, nur dieses Pochen und Wummern der Maschinen, die Wellen, die Winde, das Unwetter, den Nebel:

„Als müsste immer alles über die Haut gehen, damit sie versteht, was mit ihr geschieht, öffnet sie die Metalltür und tritt hinaus. Sie will die Konsistenz und Temperatur dieses Nebels fühlen. […] Die Feuchtigkeit dieses geballten Sturms überrumpelt sie. Es fühlt sich an, als hätte sich eine Wolke um sie alle gewickelt, und sie versucht instinktiv, sie mit gespreizten Fingern zu erhaschen. Weiße Zuckerwatte, die so dicht ist, dass sie beinahe süßlich schmeckt.“

Navarros kurzer Roman spielt mit den Zwischenwelten von Traum und Wirklichkeit, eine kurze Pause in der Unrast, ein Verschnaufen im Hämmern und Rumoren der Motoren. Die Sprache bleibt einfach, aber rhythmisch. Die Absätze lesen sich schnell und flechten sich doch zusammen. Ein Gesamteindruck entsteht. Der Wunsch nach Freiheit, Erinnerungen und Trauer werden verarbeitet, von Wind und Wetter weggespült. In seiner Komposition erinnert Navarros Text sehr an existenzialistische Miniaturen wie von Albert Camus, nur dass Navarro viel stärker auf eine in sich stimmige Komposition einer Allegorie abzielt als bloß, wie bei Camus, auf Stimmung geachtet wird:

„»Der Frachter driftet ab, er weiß nicht, warum er fährt.«
»Sie meinen, wohin er fährt?«
»Nein, ich meine, warum er fährt.«
»Ich habe alles im Griff. Ich weiß, was ich tue …«
Sie [die Kapitänin] kommt nicht dazu, den Satz zu beenden.
»Nein, niemand weiß, was er tut, wenn er abdriftet.«“

In „Über die See“ schließt sich alles stimmig zusammen: Das Motiv, der Stil, das Erzähltempo, die Beschreibungsdichte und Detailliertheit der Situationen, der Rhythmus von Rückblenden, dem Innenleben, vom personalen Erzählen und kurzen Reflexionspausen. Marietta Navarro inszeniert ihre Seefahrt zu einem geschlossenen Gebilde, das statisch, doch in sich dynamisch, über sich hinausweist. Sie hat ein Rätsel, beinahe ein delphisches Orakel vorgelegt, das zum Wiederlesen einlädt. In seiner Ruhe und Besonnenheit, in der bewussten Nüchternheit, ohne Angst zu langweilen oder als uninteressant wahrgenommen zu werden, verwandelt und entschleunigt sie das Lesen zu einem langen ruhigen Fluss und schenkt memorable Momente denen, die sich noch bemühen, mit und durch den Text hindurch zu lesen und zu verstehen.

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