Ferdinand von Schirach: „Nachmittage“

Ferdinand von Schirach: „Nachmittage“

Stilübungen im Ungefähren – vom Nachahmen, Fernwünschen und Erhabenfühlen.

Ausführlicher und vielleicht begründeter:  https://kommunikativeslesen.com/2022/…

Wer die vermeintlich gute alte Welt schätzt, Männer mit sündhaft teuren, handgefertigten Manufaktur-Armbanduhren, die sich 40 Jahre alten Whiskey, in spanischen Sherry-Fässern gereift und in viereckigen Gläsern on the rocks serviert, bringen lassen, die in Frack, mit weißen Handschuhen und Goldmanschettenknöpfen Damen die Tür öffnen und ihren Mantel auf die Schultern der vor Kälte schlotternde rehäugigen Frau legen, findet in Ferdinand von Schirachs Erzählband „Nachmittage“ eine Nische zum Wohlfühlen:

„Der Mann, der dieses Haus vor 480 Jahren gebaut hatte, stammte aus den »case vecchie«, den alteingesessenen Häusern Venedigs, wurde wohlhabend durch den Handel mit Afrika und ließ hier einen Sommersitz für seine Familie und sich errichten. Dann starb seine Frau, und er betrat nie wieder dieses Haus. Ich stelle mir vor, wie er auf den Steinstufen saß, auf denen ich jetzt sitze, wie er die gleiche Landschaft sah und den gleichen Fluss hörte.“

Schirachs Erzählungen, sechsundzwanzig an der Zahl, pendeln zwischen Melancholie, Sentimentalität, zwischen Tragik und Komik hin und her und entscheiden sich jedes Mal fürs souverän Nostalgische. So richtig als Teil von dieser Welt empfindet sich der Erzähler der kurzen Episoden nämlich nicht mehr. Weise und tiefenentspannt lehnt er sich zurück, berichtet von den tragischen Erlebnissen der anderen, von kurzen, kleinen Episoden aus deren Leben, mit denen der Erzähler sonst nicht viel zu tun hat und offensichtlich nichts zu tun haben will. Er berichtet über sie mit demonstrativer Nonchalance, gutmütig und verständnisvoll, denn alles Menschliche ist ja fehlbar und verwerflich, sobald die Welt erhaben aus der Ferne betrachtet wird:

„Wir stehen nackt in dieser Welt, die Erde ist ein kaum sichtbarer blassblauer Punkt im All, die Natur ist kalt und feindlich. Aber wir sind Menschen, wir teilen diese Einsamkeit, sie ist es, die uns verbindet. »Wir wissen voneinander«, hat sie gesagt.“

Der Erzähler trauert einer verloren gegangenen Liebe in New York hinterher. Er hört von Lügen, von Fehlern, von Morden, von Klischees, Wissenschaftlern, streut Zitate von Jean-Paul Sartre, Niels Bohr und Thomas Mann zwischen die Kapitel und beweist auf Schritt und Tritt, dass er ein Mann von Welt ist. Zwischen Tokyo und „Lost in Translation“ und Sizilien mit Giuseppe Tomasi di Lampedusas „Der Leopard“, zwischen Paris und London, New York und Berlin sucht der Erzähler seine Heimat und kann sie doch nicht finden. Die Welt hat ihren Zauber verloren:

„Was hat sich seit damals verändert? Die Geheimnisse sind verschwunden, es gibt kein Mysterium mehr, keine Rätsel. Die frühen Griechen glaubten, die Seelen der Toten würden über den Fluss Styx gefahren. Man legte den Toten eine Münze unter die Zunge, um Charon, den Fährmann zum Totenreich, damit zu bezahlen. Solche Mythen lassen sich heute nicht mehr erzählen.“

Die Trauer, nicht mehr Teil einer besseren Vergangenheit zu sein, begleitet das Buch „Nachmittage“ von Ferdinand von Schirach. Die Geschichten handeln alle von Schuld und Sühne. Alle sind irgendwie Opfer und Täter, und so richtig wohl ist keinem dabei. Schirach weiß sich damit zu behelfen, dass er jedem Kapitel eine wohlgeplante Pointe gibt. Sie lesen sich manchmal wie in die Länge gezogene Herrenwitze, die kalkuliert und spitz formuliert Belesenheit und Bildung unter Beweis stellen. Wer Ephraim Kishon mag, nur hier mit dunkler, derber Note, wer Uwe Tellkamp mag, nur weniger verzweifelt und sendungs-bewusst, wer also ein Buch benötigt, um die Welt mal richtig hinter sich  lassen und sich über sie erhaben fühlen zu können, wird mit „Nachmittage“ sehr glücklich werden. Dem Rest empfehle ich Mariana Leky „Kummer aller Art“ oder irgendein Buch von Irvin D. Yalom, der weniger souverän, aber mitfühlender über das Leiden der anderen schreibt.

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