Moritz Baßler: „Populärer Realismus“

Populärer Realismus

Ist das noch Literatur, die Gegenwartsliteratur?

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2023/…

Moritz Baßler, seines Zeichen Literaturwissenschaftler an der Universität Münster, fühlt in seinem neuesten Buch „Populärer Realismus“ den aktuellen Bestsellern und Buchpreisbüchern auf den Zahn. Die Gegenwartsliteratur zeichne sich durch Realismus aus, und Realismus bedeutet für Baßler, dass die Sprache als Medium nicht in Erscheinung tritt, sondern nur als Mittler, als unsichtbares Zeichensystem, das direkt in die Welt der Erzählung leitet:

„Der Realismusbegriff, der in diesem Buch verwendet wird, bezieht sich also ausdrücklich auf die Machart der Texte und nicht auf ihren Inhalt. Gespenstergeschichten, Science-Fiction und Fantasy-Romane enthalten zwar Dinge, die in unserer Realität womöglich nicht vorkommen (Gespenster, Vampire, Androiden, Drachen, Zauberer). Sie sind aber trotzdem realistisch erzählt […]“

Die Differenz, die Baßler anbietet, besteht zwischen Diegese, die Allheit der erzählten Welt, und Mimesis, die Anverwandlung an die Erzählposition. Traditionelle Romane wie von Virginia Woolf „Zum Leuchtturm“ oder Hermann Broch „Der Tod des Vergils“ betonen qua Wortwahl und Rhythmus ein situatives, dechiffrierendes Lesen, in welchem das Lesen sich als Tätigkeit stets bewusst bleibt, also eine Vermittlungsleistung zwischen Schreiben und Lesen im Akt vollzogen wird. Romane des Populären Realismus, so Baßler, lassen die Zeichenwelt verschwinden und ziehen ihr Publikum direkt in die verhandelte Welt, d.h. das Universum von Romanen wie „Die Vermessung der Welt“ von Daniel Kehlmann, Bernhard Schlinks „Der Vorleser“ oder Christian Krachts „Eurotrash“ ist bereits das bekannte, durch Medien und andere Bücher vorverdaute Universum, auf das nur verwiesen, das nicht mehr beschrieben zu werden braucht. Laut Baßler handelt es sich hier strenggenommen nicht mehr um Literatur:

„Überhaupt trifft alles hier Gesagte für Fantasy-Literatur, als Inbegriff des Populären Realismus, ziemlich genau zu. Um also auf die Ausgangsfrage dieses Kapitels zurückzukommen, ob Fantasy überhaupt noch in einem emphatischen Sinne Literatur ist, muss die ehrliche Antwort wohl lauten: Nein!“

Was übrigbleibt, im Kontext der neuen Schreibweise, besteht im direkten Bejahen dieser Ambivalenz, das wäre die Popliteratur nach Christian Kracht oder Benjamin Stuckrad-Barre, oder das Verschleiern dieser Ambivalenz durch Übernahme von Topoi, Duktus und Stil, ohne je den Zeichencharakter des Textes in den Fokus geraten zu lassen, das wäre Populärer Realismus im Sinne von Daniel Kehlmann oder Martin Mosebach. Beide Formen erzählen realistisch. Beide Formen haben nichts mit dem Versuch der Literatur gemein, neue Sinnlichkeitsformen poetisch emergieren zu lassen. Der Unterschied besteht nur in der sich selbst zugedachten Rolle. Ironisiert Kracht, belehrt Kehlmann. Setzt sich Stuckrad-Barre nicht mehr in die Tradition eines Thomas Mann, imitiert Mosebach gerade diesen:

„Populärer Realismus und Pop-Literatur, deren beider Merkmale sich in „Tschick“ [von Wolfgang Herrndorf] finden, sind also, so betrachtet, Alternativen auf dem Feld einer neuen realistischen Erzählliteratur. Leitkunst des Populären Realismus ist der Spielfilm: Plotting, dominante Story, Linearität, Schließung und Naturalisierung. Er macht dabei tendenziell unsichtbar, was die Pop-Literatur ausdrücklich betont: die Äquivalenz, die Nebenordnung von Möglichkeiten: Dominanz der Diegese, des Archivs, Markenparadigmen, Parallelwelten, auch Serialität, verbunden mit einer Schwächung der Handlung, oft des Narrativs selbst.“

Baßler stellt sich klar auf die Position der Pop-Literatur. In diesem Sinne untersucht er u.a. Sebastian Fitzeks „Der Heimweg“, Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“ und Sharon Dodua Otoos „Adas Raum“ und andere in der Kategorie Populärer Realismus, und Dietmar Dath „Gentzen“ und Christian Krachts „Eurotrash“ und Wolfgang Haas‘ „Müll“ für selbstkritische, selbstreflektierte Pop-Literatur. Die traditionelle Literatur gerät hier unter die Räder, und es wird schlicht und ergreifend behauptet, dass sich die Gegenwartsliteratur nicht mehr mit den Begriffen der klassischen Literatur beschreiben lässt. Diese scharfe Trennungslinie wirkt aber überhastet und verengt Moritz Baßlers Text auf eine gelungene Beschreibung der Gegenwartsästhetik, ohne Anschluss aber an eine kommunikative Produktivmachung dieser dominanten Erzählstrategien für Publikum und Schreibende. Hierfür hätte es eines weniger klassischen Kommunikationsbegriffes bedurft, der kybernetisch auf der Höhe der technologischen Entwicklung sein Ziel nicht in Bewertung und Beurteilung, sondern in der Entfaltung von Mitteilungsmöglichkeiten sieht.

Kommentar verfassen