Ana Marwan: „Wechselkröte“

Wechselkröte

Im Zeitraffungsalter. Ingeborg-Bachmann-Preis 2022.

Ana Marwan schreibt auf diesen knapp zwanzig Seiten ein ganzes Leben zu Ende. Die „Wechselkröte“ taucht auf, wie sie nach einer Zugfahrt verschwindet. Gesichter werden gesehen. Kinder geboren. Blusen versandt. Dazwischen liegen sechs Jahrzehnte in der Imagination einer möglichen Eltern-Kind-Beziehung:

„Was werde ich mit den ganzen Zeitersparnissen anstellen? Nichts, ich werde sie nicht merken, ich weiß, die Zeit lässt sich nicht sparen, man kann sie nur verschwenden, im Sekundentakt.“

Auf seine Weise akzeleriert Marwan die Erzählzeit, wie sie sie narrativ entschleunigt. Alles bleibt Andeutung, eine Suche nach Einkehr, Verwurzelung, Rückkehr in ein Leben, das der Ich-Erzählerin schwer geworden ist. Sie hat nicht mehr viel Kontakt zur Außenwelt. Die Situation bleibt in der Schwebe. Lebt sie in einem Mehrfamilienhaus, in einer Gartenkolonie? Zumindest nicht innerhalb einer Großstadt, die sie doch irgendwie vermisst:

„Ich schaue im Internet nach. Es gibt riesige Bäume zu kaufen in der Hauptstadt, die mehr Verständnis für das Vorübergehende aufbringt, die ich vermisse.“

Der Text erlaubt viele Deutungen. Als Erzählperspektiven bieten sich, u.a., Isolation während der Corona-Pandemie, Schwangerschaftsabbruch oder Naturschutz in der verwalteten Welt an. Der Erzählton bleibt melancholisch, der Zeit verbunden, die verfliegt. Die Atmosphäre verdichtet sich. Leben wird gerettet. Leben wird zerstört. Als die Ich-Erzählerin eine Wechselkröte rettet, heißt es:

„Ich setze mich auf das Moos und lasse die Kröte frei. Sie scheint mir glücklich, aber nicht dankbar zu sein. Das ist schön, bisher hat meine Barmherzigkeit immer eher im Umgekehrten geendet.“

Also in Dankbarkeit, aber nicht im Glücklich-Sein. Von Glück weiß der Text ohnehin wenig. Die Wurzeln wurden nicht geschlagen, der Baum nicht gepflanzt, das Kind vielleicht doch nicht geboren. Die Stimmung eines allzu heißen Sommers überströmt die Sprache. Schattenwurf und zähes Flimmern inmitten der Worte. Vieles erinnert an Friederike Mayröcker und ihr sentimentales, nüchternes, dennoch lebensfrohes Letztwerk „da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete“, also an mehr an Poesie als Prosa. Wer die Untiefen der Sprache nicht scheut, wird also seine Freude an dem Text haben.

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