Valerie Fritsch: “Winters Garten”

Valerie Fritsch: "Winters Garten"

Sprache und Liebe stärker als der Weltuntergang. Eine Perle in der Gegenwartsliteratur.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2021…

Valerie Fritsch „Winters Garten“ lässt die Welt in einer unspezifischen Apokalypse untergehen. Die Apokalypse bleibt in der Literatur en vogue. Sie ist es seit dem Gilgamesch-Epos. Die Welt geht unter. Die Titanen zerstören, was sie erschaffen. Die Götter nehmen, was sie geben, und das Ende von Dantes „Commedia“ gipfelt im weißen, kleinen, sternklaren Punkt des nichtigen Nichts eines ewigen und erlösten, erleuchteten Jetzt. Auch Valerie Fritschs Roman handelt von der Apokalypse. Sie handelt von Werden und Vergehen eines Individuums, und vom Ende der Welt insgesamt. Die Erzählung beginnt mit einem Hirtengesang alter bukolischer Schule Vergilischer Provenienz. Anton Winter, der Protagonist, ist jung, angstlos, ein Kind, das beobachtet, erlebt, heranwächst und staunt:

„Der Großvater stand im warmen Wind und beschnitt die Sträucher und Weinreben am Haus […] Zur Blütezeit war die Luft satt an eigenartigen Gerüchen und Tausenden Insekten, die wie ein leises Murmeln aufstiegen. Liederlich und tropisch blühte es. Kadettenblau, kaiserblau, blassorange, zwetschgengelbt. Die Akeleien schwelgten. Der Eisenhut brannte.“

Es fällt schwer, das Zitat nicht bis zum Ende des Romans weitergehen zu lassen. Die Sprache ist ein Fluss, eine einzige Assonanz figurativer, illustrativer wie formaler Konvergenz. Die Worte tummeln sich, umschmeicheln und umgarnen den Sinn und die Bedeutung, dass viele Seiten und Saiten auf einmal schwingen, man mit Haut und Haaren liest und genießt. Antons Kindheit blüht. Jedoch selbst auf den ersten Seiten, in der Idylle, mischt sich Dunkelheit zwischen die Zeilen. Föten in Gläsern, Wutanfälle des Vaters, ein dunkler Wald rund herum des Hofes. Auf eine nahezu unheimliche Weise wird klar, dass das Spiel, Ringelreihen, das bewegliche Gleichgewicht, stets kurz vor dem Zusammenfallen steht.

„Zwischen Holz und Mensch wirkte ein magischer Kreislauf. Es schien, als könne jederzeit das eine zum anderen werden. Nichts musste bleiben, was es war. Alles war formbar, auch in seiner Funktion. Der Kern der Welt schien ein nucleus movens zu sein, der sich einmal in der einen und dann in einer anderen Schale versteckte.“

Der berühmte Fluss des Heraklits poetisch gestaltet, lässt Fritsch die Sprache rund um die Stille nicht zur Ruhe kommen. Hintergrund wie Vordergrund rücken zusammen. Es geht ums Ganze, wie ums Einzelne, da das Ganze nur im Einzelnen sich entfaltet. Hier im Zwischenraum von Anton und Friederike. Fritsch rückt niemandem auf die Pelle. Sie erzählt aus sicherer Distanz, aus einer allwissenden Vogelperspektive, die kein Wissen mehr kennt, nur das Gleiten und langsame Schwingen und Kreisen über das Geschehen, das empathische Bezeugen, nicht Beobachten dessen, was sich ereignet, während die Zeit dem Ende entgegenrast.

„Die Sehnsucht überlebte jede Hoffnung – alle liefen ihr hinterher. An den Wegkreuzungen warf man einander schnelle Blicke zu, ein kurzes Lächeln, wünschte sich Glück und hastete in unterschiedliche Richtungen weiter, immer mit einem Ich liebe, Ich will, Ich muss auf den Lippen, jeder in seinen Untergang, jeder zu seiner Erlösung.“

„Winters Garten“ versöhnt und erschrickt, mahnt und inspiriert, dichtet und erzählt von Leben zwischen den Wogen. Je mehr sich die Sprache in den Vordergrund drängt, desto reicher wird die Erzählung, desto mehr leben die Dinge, desto mehr lässt sich über den instrumentellen Charakter der konventionellen Zeichen hinwegsehen und erlaubst sich der Blick in die Ferne zu schweifen. Valerie Fritsch hat einen unfassbar bezaubernden Roman geschrieben, der wie Musik in den Ohren im Herzen bleibt.

Sehr zu empfehlen, und sehr verwandt mit Agustina Bessa-Luís “Die Sibylle” und “Die Sternstunde” von Clarice Lispector.

3 Gedanken zu „Valerie Fritsch: “Winters Garten”“

    1. Ich hab’ zu danken für die Rezension von “Johnson&Johnson”. Das werde ich auch noch lesen! Wirklich tolle Autorin.

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