Hannah Arendt: „Vita activa“

Hannah Arendt: „Vita activa“

Kulturpessimismus mal anders: Von ewigen Platonischen Ideen und anderen Utopien.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2022…

Wenige kritisieren die moderne Gesellschaft und den Strukturwandel der Öffentlichkeit so tiefgreifend und nachhaltig wie Hannah Arendt in ihrem 1958 erschienen philosophischen Hauptwerk Vita activa oder Vom tätigen Leben. In ihm wird das Fehlen des kontemplativen Lebens angeprangert. Laut Arendt verhindert der Aktionismus die Kommunikation zwischen Experten und Laien, zwischen der Wissenschaft und einer aufmerksamen bürgerlichen Öffentlichkeit. Die Welt gerät aus den Fugen, denn beide Seiten verlieren im technologischen Fortschritt jeden Sinnzusammenhang:  

Was dagegen spricht, sich in Fragen, die menschliche Angelegenheiten angehen, auf Wissenschaftler qua Wissenschaftler zu verlassen, ist nicht, dass sie sich bereitfanden, die Atombombe herzustellen […] viel schwerwiegender ist, dass sie sich überhaupt in einer Welt bewegen, in der die Sprache ihre Macht verloren hat, die der Sprache nicht mächtig ist.

Die Welt, in der die Sprache ihre Macht verloren hat, ist die der modernen Wissenschaft. Nicht Ideen verändern die Welt, sondern Ereignisse, und ein solches bestand in der Entdeckung des Teleskops durch Galileo Galilei. Ähnlich wie Niklas Luhmann in Die Gesellschaft der Gesellschaft den Beginn der Neuzeit mit der Entdeckung der Buchdruckkunst durch Johann Gutenberg ab 1450 ansetzt, oder Ayn Rand in Atlas Shrugged die Steinzeit der Menschheit 1769 mit der Entdeckung der Dampfmaschine von James Watt für beendet erklärt, so verlegt Hannah Arendt die Geburt der Neuzeit auf das Jahr 1610, als Galilei die Monde des Jupiters entdeckte:

Was aber niemand vor Galilei getan hat, war, ein Gerät, das Teleskop, so zu benutzen, dass die Geheimnisse des Universums sich menschlicher Erkenntnis »mit der Gewissheit sinnlicher Wahrnehmung« offenbarten; was nichts anderes heißt, als dass er die Fassungskraft einer erdgebundenen Kreatur mit einem körperlichen Sinnesapparat so erweiterte, dass sie über sich hinauslangen kann […]

Was nämlich erfolgte, war der Siegeszug der Technologie, die jeden Lebensbereich eroberte und veränderte, auch den Bezug des Menschen zu sich und anderen. Die Beschleunigung aller Prozesse, die Vervielfachung der Informationen sprengt, so Arendt, die Fassungskraft der einzelnen und wirft diesen mehr und mehr auf Automatismen zurück. Das Verstummen ist Reaktion auf eine schlichte Überforderung gegenüber den rauschenden, sinnentleerten Ereignisabfolgen, die den Menschen auf die Existenzweise eines Tieres herabdrücken:

Ist man erst einmal so weit gediehen, so gewinnt die alte Definition des Menschen als eines Animal rationale eine wahrhaft unheimliche Stimmigkeit: wenn wir den Sinn verloren haben, durch den unsere fünf animalischen Sinne sich einer Menschenwelt fügen, die uns allen gemeinsam ist, so bleibt vom menschlichen Wesen in der Tat nicht viel mehr übrig als die Zugehörigkeit zu einer Tiergattung, die sich vor anderen Tiergattungen nur dadurch auszeichnet, dass sie es vermag, Schlussfolgerungen zu ziehen – »to reckon with consequences«.

Hannah Arendt kritisiert den ausufernden Skeptizismus der Wissenschaften, die Kurzlebigkeit der Kulturprodukte, das Fehlen von Tradition und Konsens, die Bodenlosigkeit des cogito ergo sum, das eigentlich ein dubito ergo sum ist und von Wahrheit und Verbindlichkeit nichts mehr hören will. Nur von der kontemplativen Lebensweise am Leben gehalten, schwindet so das Denken, Herstellen, das Kreieren bleibender Dinge mehr und mehr und das Begreifen und Erfassen der Platonischen Welt voller unsterblicher Ideen wird zunehmend durch eine alles durchdringende Arbeitsaktivität verunmöglicht. Diese Platonische Welt der Kulturideale unterscheidet aber den Menschen vom Tier, befreit den einzelnen aus seiner Gefangenschaft des Privaten, und stellt, wie Arendt immer wieder betont, das einzig Lebenswerte im Leben dar, denn nicht einmal Liebe, Genuss, Glück langt, so das Ergebnis ihrer Analyse, um den Menschen über die eigene Sterblichkeit hinwegzutrösten.

Vita activa lebt von den angesprochenen Dualismen: Mensch gegen Tier, Sich-Verhalten gegen Herstellen, Konsum gegen Produktion, Kultur gegen Natur, Unsterblichkeit gegen Ewigkeit, Öffentlichkeit gegen Privatheit. Die Dualismen werden jedoch leider nicht selbst hinterfragt, also keine Beschreibungsebene festgelegt. Die Begriffsarchitektur bleibt starr vollstreckt und ähnelt in vielen Urteilen der Frankfurter Schule rundum Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, aber insbesondere der Technikfrage Martin Heideggers und dem Kulturpessimismus eines Günther Anders in Die Antiquiertheit des Menschen.

Eine etwas anders gelagerte Zivilisationskritik erhält man mit Ayn Rands Atlas Shrugged oder dem bärbeißigen Ernst Jünger aus Der Waldgang und Der Arbeiter – oder wenn man von den Dualismen und Ontologie nicht viel hält, dann Gotthard Günthers Die amerikanische Apokalypse, ein durchweg optimistischer Text trotz des Titels, oder eben Richard Rortys Der Spiegel der Natur, der einem etwas von der philosophischen Last von der Schulter nimmt.

10 Gedanken zu „Hannah Arendt: „Vita activa““

  1. Wir bewegen uns in gleichen Lektüren. Ich möchte eigentlich das lesen, entschied mich dann für die Elemente und Ursprünge… was nun schwierig ist, weil ich weiss, dass ich lieber anderes gelesen hätte. Aber Arendt wird mich die nächste Zeit mehr begleiten, die Zeit wohl mehrheitlich prägen bei mir. Parallel zu den Elementen lese ich noch die Briefe mit Blücher. Grossartig. Ich hoffe sehr auf einen Austausch, das würde mich freuen.

    Nun lese ich deinen Beitrag nochmals ganz genau und freue mich über diese Synergie.

  2. Ja, sehr gerne. In “Vita activa” haben mir viele Stellen sehr gefallen. Bei der Besprechung habe ich mich nur auf die Begriffsarchitektur konzentriert. Du liest gerade “Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft”? Bist du noch mitten drin? Dann steige ich mit ein, ansonsten sag Bescheid, was als nächstes ansteht. Ich würde mich sehr über den Austausch freuen, insbesondere da ich in der antiken Philosophie nicht so firm wie du bin. Viele Grüße!

    1. Ich habe damit begonnen, aber es ist schwere Kost. Im ersten Teil erläutert sie die Unterschiede zwischen Judenhass und Antisemitismus, beleuchtet die Geschichte derselben. Ich würde mich über dein Mitlesen freuen und über den Austausch.

      1. Sehr gern. Hab’s bestellt. Ich wollte es eigentlich schon länger lesen. Ein schöner Anlass, es endlich zu tun.

  3. Habe sehr gespannt diese Rezension gelesen und mir das Buch sofort bestellt.in meiner zweiten Ebene existiert ein Leben mit Hütte in Irland und Hochlandrind ohne Handy. Nur Bücher, ein Block und ein Stift.
    Ich bin freue mich sehr auf die Vita activa. Danke für deine Rezension.

    1. Arendts Buch ist sehr interessant. Ich habe nur an der Oberfläche kratzen können. Die Tiefenschicht ergibt sich nach und nach. In Irland gibt es die Aran Insel, eine wunderschöne Steininsel ins Meer vorgelagert, schroff und wüst und schön, gerade richtig für das Hochlandrind. Im Rücken der Turm von Yeats (an der Küste) und vor einem nur der Atlantik, der weite schöne Horizont des Seins und Reisens, Möwen, die segeln, und Wolken, die gleiten.

  4. Herausgreifen möchte ich dies Zitat: “Wahrheit, Objektivität, Ewigkeit entstehen nur im Zusammenspiel eines sich gegenseitig zugesicherten Konsens.”. Das ist der klassisch griechischen Auffassung von einem Leben, das zu führen sich lohnt, nachempfunden: arete (Tugend), pheme (Ruf) und doxa (der über den Tod hinausreichende Ruhm). Das sind allerdings keine Abstrakta wie Wahrheit, Objektivität und Konsens, sondern Beweggründe, die sich in der Brust des Handelnden als sehr lebendig erwiesen. Insofern ist Ahrend der völligen Entfremdung und Entwertung des individuellen Beitrags, die sie als Gefahr am Horizont aufziehen sieht, selbst schon verfallen. Aber sie schafft es noch, für sich selbst einen heroischen Abgang zu finden.. – Unter den heutigen Bedingungen scheint das kaum noch möglich zu sein. Denn der Konsens stellt sich nicht mehr kommunikativ her, sondern wird als Fertigprodukt (Propaganda) vorgegeben, und wir werden nur noch hinterhergeschleift. Unterwirf dich dem massenmedial vorfabrizierten “Konsens” oder krepier.

    1. Ich mag deine Erklärung zu arete, pheme und doxa, insbesondere wie du auf die Beweggründe abzielst, denn Bewegung selbst, die eigene innere Tätigkeit, die genau unterbewertet Arendt. Sie argumentiert mehr als Geisteswissenschaftlerin, der der Geist verlorengegangen ist, ohne zu verstehen, dass sie Akademikerin ist, die die Forschung zugunsten des Diskurses eintauscht. Das Herstellen selbst, wenn ich etwas herstelle und es für gut befinde (Kuchen, Tisch, Brot oder Geige, Gemälde) hat in sich die pheme, die zur arete gereicht – ob es zur doxa kommt, scheint mir in situ dann gleich. Ja, das Interessante an Arendt, dass sie diesen Problemhorizont abschreitet. Ich konnte aber nicht alles besprechen, insbesondere das Verhältnis zur Heidegger-Philosophie, die Technik-Frage – das überzieht einfach meine (mir selbst auferlegte) Beitragslänge! Vielen Dank für den schönen Kommentar!

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