Slata Roschal: „Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten“

Formalästhetisches Schweifen durch die Höhen und Tiefen einer sich suchenden Psyche mit Elan und Verve und Mut zum Scheitern vorgetragen.

In „Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten“ experimentiert Slata Roschal erneut mit Erzählweisen, um das Gegenwarts-Ich in seiner vollen Komplexität sprachlich einzuholen und in seiner emotionalen Überforderung abzubilden. Thematisch arbeitet sie sich an dem Thema Mutter-Sein ab:

Und #regrettingmotherhood zum Beispiel […] Ich lese ab und zu, google, registriere mich als Gast, aber wenn der Wunsch zu groß wird, etwas zu äußern, die Gedanken vor anderen auszusprechen, auszuschreiben, nehme ich mich wieder zusammen, denke, dass ich vielleicht doch irgendwie, es vielleicht doch schaffen kann, so zu tun, als wäre ich normal. Außerdem passt es nicht, bereue ich ja nichts, es gibt keine Hashtags für das, was ich sagen will.

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Didier Eribon: „Eine Arbeiterin“

Eine Arbeiterin by Didier Eribon

Ein Buch voller Fragezeichen, zwischen Theorie und Beichte schwebend, unentschlossen.

Bei Didier Eribons Buch “Eine Arbeiterin“, um es gleich vorabzusagen, handelt es sich um eine lose, undurchkomponierte Form eines politischen Essays, der sich darum bemüht, das Problem des Alterns ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu bringen: Die Isolation und Ignorierung der Pflegebedürftigen, Schwachen und vom Leben Gezeichneten in Pflege- und Altersheimen wirft ein schlechtes Licht auf eine Gesellschaft, die von sich selbst behauptet, Gerechtigkeit zu verwirklichen und die Würde eines jeden einzelnen zu verteidigen. Eribon legt einen Finger in diese tatsächlich vorhandene Wunde:

Während sie allein in ihrem Bett im Pflegeheim lag, protestierte meine Mutter, brachte sie ihre Empörung zum Ausdruck. Doch ihr Schrei war nur an einen einzigen Menschen gerichtet: an mich (oder an vier Menschen, wenn ich meine Brüder mitzähle, die sie vermutlich ebenfalls regelmäßig anrief). Es geschah meist am frühen oder späten Abend, und ihre Wut hatte als Zielscheibe nur den Anrufbeantworter meines Telefons, den ich erst Stunden später abhörte.

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Michaela Maria Müller: „Zonen der Zeit“

Zonen der Zeit by Michaela Maria Müller

Aufhebung der Kampfzonen. Ein leiser Berlin-Roman voller friedlicher Lebenswegumwälzungen.

Großstadtromane beschreiben Sonderlinge, die sich ihre Nische suchen und finden. In „Zonen der Zeit“ von Michaela Maria Müller suchen Enni van der Bilt und Jan Schneider ein neues Leben, ziehen aus dem Münchener Umland nach Berlin und starten mitten im Leben nochmal von vorn. Er als U-Bahnhof-Zeitungskiosk-Betreiber, sie als Calltakerin bei der Berliner Feuerwehr, derweil zerbricht Jans Ehe mit Katja:

»Auf der Straße«, sagte ich [zu ihr auf die Frage wo ich war], und dass Enni heute Nacht bei mir blieb. Daraufhin legte Katja auf. Eine halbe Stunde später rief sie mich jedoch an, dann wieder und wieder in immer kürzeren Abständen, die ganze Nacht lang. Wenn ich ihren Anruf annahm, horchten wir in den Hörer und schwiegen, bis einer von uns wieder auflegte. Wir waren verbunden, aber wir hatten uns nichts mehr zu sagen.

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Han Kang: „Griechischstunden“

Griechischstunden

Durch einen Spiegel in einem dunklen Wort – die Stimme zurückfinden.

Viele Romane streben heutzutage eine Literatur der kleinen Form an. Sie besteht in äußerst verdichteten Minimalszenerien, die sofort, ohne längeren Aufschub, auf die Erzählidee eingehen, den inneren Konflikt thematisieren und auf nur wenigen Seiten dann, oftmals sogar berechenbar, diesen auflösen. Im Zentrum dieser Art Literatur steht oftmals ein bereits auf viele Weise tradierter Stoff wie bei Alan Lightman in „Und immer wieder die Zeit“ Einsteins Relativitätstheorie, oder bei Cees Nootebooms „Rituale„, die japanische Teezeremonie. Bei Han Kangs „Griechischstunden“ steht Platons Idee auf dem Programm, das Übersinnliche, Überzeitliche, das Nicht-Sichtbare:

Aber stimmt das überhaupt? Hat mich Platons Universum aus den Gründen fasziniert, die du angeführt hast [die drohende Blindheit] – und so, wie ich schon zuvor vom Buddhismus angezogen wurde, weil er sich mit einem einzigen Schnitt vom spürbaren Dasein loslöst? Weil es mir bestimmt war, den sichtbaren Teil der Welt zu verlieren?

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Deniz Ohde: „Ich stelle mich schlafend“

Ich stelle mich schlafend

Atmosphärisch stimmig. Ein Erzählsound, durchgängig aufrechterhalten, der sich den Zwang auferlegt, oberflächlich zu bleiben. Schade.

Deniz Ohdes zweites Buch „Ich stelle mich schlafend“ lässt sich als eine Erweckungsliteratur begreifen, der den Mut zur eigenen Courage fehlt. Mittels Yasemine, der Protagonistin, wird von Schuld, körperlicher Entfremdung, von Übergriffen, Obsessionen und Distanznahmen erzählt:

Aber davon wusste Yasemin noch nichts, daran dachte sie auch nicht, als sie nun, achtzig Jahre später, vor speziellen Spiegeln in ein Verwandtschaftsverhältnis mit dieser Pionierin [der Krankengymnastin] trat und sich auf sich selbst besinnen sollte. Ein Gefühl für ihren Körper entwickeln, den sie bisher mehr als Vehikel gesehen hatte, das man wohl oder übel ab und zu mit Gemüse und Wasser füttern musste, damit es einen durch die Welt trug. An ihren Atem hatte sie schon gar nie gedacht.

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Julia Jost: „Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht“

Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht

Subversives Schreiben gegen das ländliche Kärntner Idyll. Eine poetische Aufruhr aus der Sicht seines kindlichen Wildfangs.

Wer, was ich erst durch den Kauf des Hardcover-Exemplars von Julia Josts Roman erfuhr, Geleitworte von Elfriede Jelinek auf dem Umschlagtext erhält und dieser sogar expliziert am Ende ihres Buches dankt, muss zumindest irgendetwas Textliches gewagt haben. Julia Jost wagt indes viel. Sie beschreibt aus der Sicht einer Heranwachsenden, das Alter der 1982 geborenen Ich-Erzählerin schwankt zwischen sieben und dreizehn Jahren, das Leben und Aufwachsen in Kärnten unter, so ließe sich mit Ingeborg Bachmann zusammenfassen, Mördern und Irren:

Obwohl der vulgo Focknhocker keine drei Kilometer vom Gratschbacher Hof entfernt wohnt, er dieselben Bäume anschaut wie ich und Schwalben, derselbe Geruch in ihn eindringt, er vom gleichen Speck isst und die gleiche Milch trinkt, obwohl er, wie ich, erst nach und nach den zweibeinigen Gang und die Artikulation mit der Zunge gelernt hat, obwohl sein Dialekt dem meinen gleicht, kam er mir in jenem Augenblick unüberbrückbar fremd vor.

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Benjamin von Stuckrad-Barre: „Noch wach?“

Noch wach

Außer Spesen nichts gewesen. Ein didaktischer Hip-Hop-Roman.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2023/…

Stuckrad-Barres Titel von seinem neuen Roman „Noch wach?“ versteht sich nach dem Lesen als mehrdimensionales, in sich verspiegeltes Versteckspiel. „Noch wach?“ bezieht sich auf den englischen Begriff „woke“, aber auch auf die Kurznachrichten eines Chefredakteurs, die er seinen Mitarbeiterinnen tief in der Nacht schickt in der Hoffnung, dass sich noch ein Treffen zwischen ihnen ergibt. In äußerster Verdichtung mischen sich kommunikative Formen der Läuterungs- und Nötigungsversuche der Moderne. Stuckrad-Barres Text stellt die Frage, ob sich das Publikum diesseits oder jenseits von „woke“, diesseits oder jenseits von #MeToo, diesseits oder jenseits von sexueller Belästigung und Machtmissbrauch befindet:

Arbeitsrechtlich ist das ein scheiß Minenfeld. Aber ich meine, ganz unter uns gesagt: Was willst du von dem Drecksblatt auch anderes erwarten? Mein Freund schaute angewidert und bat mich, ihm abermals den Post des früheren BILD-Chefredakteurs zu zeigen, das frühmorgendliche Foto vom See, samt der irgendwie spät(sehr spät)pubertär-stolzen Meldung, dass er NOCH wach sei.

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Olga Tokarczuk: „Empusion“

Empusion

Ein Roman jenseits von Grenzen und Differenzen.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2023/…

Empusion“, der erste Roman von Olga Tokarczuk seit dem Erhalt des Literaturnobelpreises 2019, spielt in Görbersdorf, im preußischen Schlesien gelegen, im Jahr 1913. Viele Rezensionen weisen auf die klare Bezugnahme Tokarczuks auf Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ hin. Die Parallelen fallen sofort ins Auge:

Der Doktor erhob sich schwungvoll, reichte Wojnicz den Zettel mit seinen Anweisungen. Das also war es. Jetzt war er aufgenommen. Nun saß er wieder im Wartezimmer, und die unansehnliche Krankenschwester bereitete sein Behandlungsbüchlein vor sowie weitere Dokumente, die er benötigte. Er zog die gefaltete Broschüre aus der Tasche und las zu Ende, was er begonnen hatte:
»Allgemein muss gesagt werden, dass in Hinsicht der Heilung bislang Aufenthalte in Kurorten wie Meran in Tirol, im schlesischen Görbersdorf oder im nach Görbersdorfer Vorbild eingerichteten schweizerischen Davos die beste Wirkung erbringen.«

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Byung-Chul Han: „Die Krise der Narration“

Die Krise der Narration

Kulturkritik, sehr kurz und wirklich knapp, auf 100 Seiten leicht gemacht

Ausführlicher besprochen und auf seine Argumentationslogik überprüft auf kommunikativeslesen.com

Von einem knapp 100 Seiten langen Büchlein mehr als ein paar Assoziationen zu erwarten, scheint vermessen. Byung-Chul Hans „Die Krise der Narration“ will nicht viel. Es hebt lediglich den warnenden Zeigefinger. Zu viel Lärm um Nichts, sagt es, zu viel Information, zu viele Likes und Posts, zu viel Storyselling statt Storytelling:

„Das Storytelling als Storyselling bringt keine Erzählgemeinschaft, sondern eine Konsumgesellschaft hervor. Narrative werden produziert und konsumiert wie Waren. Konsumenten bilden keine Gemeinschaft, kein Wir.“

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Sebastian Hotz: „Mindset“

Mindset

Die Vorbereitung auf ein Lehrstück, das noch nach seinem Gegenstand sucht.

Konzeptromane entstehen am Reißbrett. Eine zündende, eine wie auch immer geartete kommunikative Idee treibt sie. Auf diese eine einzige Idee kommt es an, und alles andere wird ihr untergeordnet. Sebastian Hotz hat einen solchen Roman geschrieben. Er ist mit dem Titel „Mindset“ auf den Markt gekommen und hat sehr viel gemein mit Constantin Schreibers „Die Kandidatin“ oder Maxim Billers „Der falsche Gruß“. Ein gewisses Sendungsbewusstsein nimmt in ihnen die Sprache an die Kandare:

„Als sich schließlich Mirkos nackte Füße auf den grauen Teppich senken und sich die dort befindende Mischung aus abgestorbenen Hautzellen, Flusen, Haaren und undefinierbarem Staub auf ihre Sohlen heftet, wird aus der düsteren Vorahnung eine Gewissheit: Der Beginn eines neuen Tages ist auch heute unvermeidbar.“

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