George R.R. Martin: “Die Herren von Winterfell”

Die Herren von Winterfell

Unterhaltsamkeit: 4 Sterne. Pacing: 3 Sterne. Figurenensemble: 2 Sterne. Sprachvergnügen: 1 Stern. Ein holpriger Einstieg. Bis auf einige Stellen sehr fixiert auf Äußerlichkeiten.

G.R.R. Martins „Das Lied von Feuer und Eis“ springt in seiner Erzählform zwischen den Schauplätzen umher. Die Schnitte sind hart, und auch die Erzählzeit variiert stark. Weniger die Innerlichkeit der Figuren spielt eine Rolle, als deren dialogische Wechselwirkung und Kostümierung, so dass der Roman teilweise eher einem Drama oder Theaterstück oder Operatte entspricht. Die reflexive, sich weitende epische Möglichkeit des Romans wird nicht ausgespielt. Martin kommt schnell und hart zur Sache:

„Bei dieser verfluchten Hitze war die halbe Stadt wie im Fieber, und jetzt mit all diesen Besuchern … gestern Nacht gab es einen Tod durch Ertrinken, eine Massenschlägerei in einer Taverne, drei Messerstechereien, eine Vergewaltigung, zwei Brände, Räubereien ohne Ende und ein alkoholisiertes Pferderennen auf der Straße der Schwestern. In der Nacht davor wurde im Regenbogenteich der Großen Septe der Kopf einer Frau gefunden.“

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Peter Handke: „Die Ballade des letzten Gastes“

Die Ballade des letzten Gastes

Verschworen-verschwurbelt über den Schmerz. Der letzte Gast, der Tod, verdrängt und doch erkannt.

Peter Handkes „Die Ballade des letzten Gastes“ heißt nicht nur Ballade, sie ist auch eine und kein Roman. Es gibt zwar eine Handlung, einen Plot, der wie immer bei Handke minimalistisch ausfällt, aber die Darstellung, die Erzählweise lässt von Anfang an keinen Zweifel daran aufkommen, dass es nicht um den Plot, sondern um das, was hinter ihm lauert und steht, geht:

„Und wie ich als der letzte Gast an einem wackligen Tisch saß, und den dann noch stärker zum Wackeln brachte, und dazu die verschiedenen Fingerabdrücke auf dem Glas vor mir – je verschiedener, desto besser. Und als das Schulkind, trödelnd auf dem Heimweg, im Gehen den Schulbeutel von der einen auf die beiden Schultern wechselte.“

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Martin Mosebach: „Krass“

Krass
Krass von Martin Mosebach.

Die Sehnsucht nach dem Besonderen und Singulärem – zerschmettert in der eigenen Unfähigkeit. Den Anti-Bildungsroman zum ornamentalen Abschluss gebracht.

Martin Mosebach, Georg-Büchner-Preisträger von 2007, zeichnet in seinem 2021 erschienen Roman „Krass“ eine Welt des Zerfalls. In apodiktischer Ironie beginnt der Roman im Winter 1988, geht über das Jahr 1989 über jeden Mauerfall und Wiedervereinigungskontext hinweg und landet unversehens wieder im Jahr 2008, ohne einschneidende, die Welt bewegende politische Momente auch nur am Rande zu thematisieren. Das Thema des Buches lässt dies auch nicht zu: Ralph Krass, ein Geschäftsmann, steht über diesen Dingen.

«Die Kraft eines Genies besteht darin, die Realität seinem Willen zu unterwerfen und nach seinem Willen zu formen.» Das sei [so Ralph Krass] bereits an den Ereignissen der Weltgeschichte ablesbar – sie seien nichts anderes als Verlängerungslinien einer Persönlichkeit. Ein Krieg, ein Frieden, eine Eroberung seien vor allem in die Außenwelt projizierte, zu Tatsachen geronnene Charaktereigenschaften, leicht erkennbar bei Alexander, Cäsar, Attila, Napoleon, Hitler, Stalin. «Was diese Männer taten, das waren sie. Männer wie diese schreiten durch die Welt als Rätsel und Fatum und Ausstrahlung einer anonymen Kraft – manchmal haben sie vor sich selber Angst.»

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Anne Weber: „Annette, ein Heldinnenepos“

Annette, ein Heldinnenepos

Ein sprachlich gelungener Etikettenschwindel: Das Heldinnenepos als Flussfahrt mit Huhn aus dem Kuriositätenkabinett.

Anne Weber wählt in „Annette, ein Heldinnenepos“ eine ungewöhnliche Form. Statt eine klassische Biographie über eine promovierte Neurologin, Résistance-Kämpferin und Verfechterin für Frauen- und Menschenrechte zu schreiben, besingt sie das Leben von Anne Beaumanoir in rhythmisch-strukturierten Versen und Absätzen wie anno dazumal Homer Odysseus und Vergil Äneas, nur hier modern-gebrochen und ironisch-konterkariert:

Von ihrem freien Willen
dankt sie ab, jedenfalls so lange, bis sie irgendwann
selbst ein paar willenlose Bauern zu dirigieren hat.
Was ist es eigentlich? Was treibt sie an? Warum hat sie
Ihr eignes Leben, das einzige, das sie nun einmal hat,
von einem Tag zum andern aufgegeben, bevor es richtig
angefangen hat? Weiß sie es selbst? Weiß man es je,
warum man letztlich etwas macht?

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Jon Fosse: „ Der andere Name“

Der andere Name

Das Bewusstsein im Moment kurz vor seinem Verlöschen, Erzählung ohne Erzählung, oder was bleibt, wenn nichts mehr bleibt. Eine literarische Katharsis.

Eine der Begründungen für die Verleihung des Literaturnobelpreises im Jahr 2023 an Jon Fosse lautet, dass Fosse dieser dem Unsagbaren eine Stimme verleihe. In seinen eigenen Aussagen führt er dies näher aus, nämlich als das Schreiben eines Erzählers, der sich an der Grenze zwischen Leben und Tod befindet:

„[…] bald sind wir dort, denke ich und ich gehe weiter und ich schaue auf den Hund, der sich seinen Weg durch den Schnee bahnt, und er scheint etwas müde geworden zu sein, er keucht schlimm, denn es ist ein kleiner Hund und er hat schon ein paar Jahre auf dem Buckel, also bleibe ich stehen und hebe den Hund auf und dann gehe ich weiter, den Hund auf dem Arm, und ich denke nichts und es schneit immer weiter und kein Mensch ist zu sehen und es schneit immer weiter […]“

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Ulrike Sterblich: „Drifter“

Drifter

Kurzweiliges Panorama über das Mögliche und Unmögliche, das Wahrscheinliche und Unwahrscheinliche im postmodernen Großstadtleben. Surrealistisch konstruktiv Verwirrung stiften.

Ungebremste Fabulierlust besitzt Seltenheitswert. Nur wenige trauen sich, einfach drauflos zu erzählen. Nur wenige lassen die Zügel schießen und geben ihren jeweiligen, sich ergebenden, spontan erscheinenden Einfällen nach. Nur wenige vertrauen ihrer Erzähl- und Wortschmiede- und Kompositionskunst so sehr, dass sie Plot, Bedeutung und Realismus gänzlich hinter sich lassen können, um sich ihrer Phantasie und Narration rückhaltlos hinzugeben. Ulrike Sterblich gehört, zumindest nach ihrem Roman Drifter, dazu.

«Keine Ahnung, kann ich nichts zu sagen.»
Nee, klar. Konnte [der Buchhändler] nichts zu sagen, was sollte er denn auch wissen? Von dem Buch, dem Hund, der Frau, von den Pferden, dem Gewitter und dem Blitz, der meinen besten Freund über die Rennbahn geschleudert, ihm die Haare versengt und sich auf seiner Haut eingebrannt hatte. Er wusste nur, was sein Computer ihm sagte, und der Computer sagte: Nein.

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Tonio Schachinger: „Echtzeitalter“

Echtzeitalter

Stilistisch unterfordernd, inhaltlich unzusammenhängend, kompositorisch unentschieden erlaubt Toni Schachingers Roman „Echtzeitalter“ ein geradezu atemberaubendes Lesetempo, das jeden Sinn und Zusammenhang mit Leichtigkeit abschüttelt.

Zur Schule zu gehen, heißt, mit Themen, Probleme konfrontiert zu werden, die überhaupt nicht im Interessenhorizont existieren. Die Klasse sitzt da und lauscht über Robert Musil, Anna Seghers, über Robert Walser und Adalbert Stifter. Sie muss André Gides „Die Falschmünzer“ lesen, wobei sich einzelne in Gedanken mit Computerspielen, Rauchen, Sex und Partys und Drogen beschäftigen. Till Kokorda, der Protagonist aus Tonio Schachingers Roman „Echtzeitalter“ gehört dazu:

[…] Till lauscht mit gebührender Langeweile, wie der [Klassenlehrer] Dolinar einige seiner Klassiker wiederholt, über das Verhältnis von Kirtagen und Hintern und darüber, dass es nicht reicht, manchmal hier zu sein, dass es notwendig ist, hier und nur hier zu sein, nicht im Park, nicht in anderen Klassen, nicht bei irgendwelchen Ablenkungen, sondern: «Hier, hier, hier … Verstehst du, was ich sage, Kokorda?»
Till blickt auf.
«Das glaube ich nicht! Sonst würdest ned nach irgendan Schas schreiben über irgendein deppertes Videospiel.»

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Terézia Mora: „Muna“

Muna

An der Erzählperspektive gebrochener Masochismus, der die Handlung unter einer Glasglocke ersticken lässt.

Der Roman Muna von Terézia Mora besitzt als Rahmen eine absolute, selbstbezogene Form von Liebe. Muna, die Protagonistin, liebt Magnus bedingungslos, obwohl dieser ihr die meiste Zeit über, die der Roman von Leben Munas abdeckt, über 20 Jahre, die kalte Schulter zeigt. Sie will Kontakt. Sie sucht seine Nähe. Sie gibt alles für ihn auf. Hauptsache sie ist in seiner Nähe. Sie erträgt alles, denn er ist schön. Das ist alles, was sie am Anfang von ihm weiß, aber es ist genug, um ihn ein halbes Leben zu verfolgen:

Danke!, rief ich und stürmte an ihm vorbei, fiel durch die Tür ins Zimmer mit dem großen Tisch und den Regalen, wer im Raum war, schreckte hoch. So sah ich ihn zum ersten Mal, sich irritiert nach mir umdrehend: den schönsten Mann, den ich je im Leben sehen würde.

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Necati Öziri: „Vatermal“

Vatermal von Necati Öziri

Anti-Literatur als Literatur verpackt. Ein Schelmenroman auf Abwegen.

Schreiben dient oft zur Selbstfindung. Tagebuch schreiben, Briefe schreiben, Notizen, kleine Aphorismen und Zusammenfassungen zusammentragen, um dem alltäglichen Chaos, das Auf und Ab, die Gefühlswallungen, Assoziationen einzudämmen, die möglicherweise durchs Bewusstsein branden, und durch Necati Öziris Ich-Erzähler Arda geht eine ganze Menge. Es brennt. Es flammt. Es rumort, kracht und donnert:

„»Was soll ich schreiben?«
»Spielt keine Rolle, Hauptsache halbwegs fehlerfrei, dürfte ja kein Problem sein.«
[…] »Na, dann wollen wir mal sehen: ›Ich werde eure Töchter vögeln bis sie arabisch sprechen. Ich klaue euren Söhnen den Praktikumsplatz, mach sie drogenabhängig und verkaufe ihre Organe auf dem Basar. Ich breche nachts den Stern von euerm Benz und trage ihn an meiner Halbmondkette. Ich will kein Arzt oder Anwalt werden, ich werde Superstar oder arbeitslos.‹ «“

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Teresa Präauer: „Kochen im falschen Jahrhundert“

Kochen im falschen Jahrhundert von Teresa Präauer

Gesprächsabbruch unter fragwürdigen Bedingungen, literaturlos inszeniert.

Teresa Präauer, nominiert für den Ingeborg Bachmann-Preis 2015 und den Preis der Leipziger Buchmesse, Trägerin des Friedrich-Hölderlin-Preis und des aspekte-Literaturpreises für das beste deutschsprachige Prosadebüt 2012, steht nun 2023 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises mit „Kochen im falschen Jahrhundert“.  Im Zentrum des Romanes steht ein geselliger Abend, den eine Gastgeberin gibt und zu dessen Anlass sie eine Quiche Lorraine backt:

Alles gut. Wieso sagten die Menschen in letzter Zeit so gern alles gut? Wieso fragten sie: Alles gut? Wieso lautete die Reaktion auf Fragen, Wünsche und Aggression stets: Alles gut? Wo doch eigentlich sehr wenig einfach gut war, fast gar nichts. Was ist alles nicht gut, das wäre die Frage, die man stellen könnte. Oh, sorry, sagte der Schweizer dann. Äxgüsi. Es läge an seiner Unterzuckerung und am Kapitalismus.
Alles gut? Nur eine Quiche war gut. Knusprig, cremig, warm und kalorienreich. Der Geschmack von Schinken, Zwiebel, Porree und Ei. Eine Quiche, die zuerst noch gebacken werden musste.

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