Martin Walser: “Das Traumbuch”

Martin Walser: "Das Traumbuch"

Martin Walser reloaded: Bescheiden, freundlich und eigenartig leutselig.

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Lüsterner alter Sack? Der alten BRD nachtrauernder Kulturrevanchist? Der Abgesang aufs eigene Großschriftstellertum? Mit anderen Worten, ohne Nobelpreis, aber mit Blasenschwäche … der alte Walser, kein bisschen weiser? Weit gefehlt. Martin Walser legt mit „Das Traumbuch – Postkarten aus dem Schlaf“ die Karten auf den Tisch. Bescheiden, selbstkritisch, vernarrt, subjektivistisch spielt er sprachlich mit den eigenen Träumen, die sich um Sex und das Kulturleben der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1950 und 1999 drehen.

„Mit vielen in einer überfüllten Vorhalle. Es kommen dann Reich-Ranicki mit Gefolge und, hinter ihm, ihn überragend eine Art Michel Friedman, der heftig mit einer Schönen scherzt, auch aus Übermut nach ihr beißt. Reich-Ranicki und Michel Friedman haben dünne Stöckchen. Ich habe auch ein solches Stöckchen. Als sie an mir vorbeikommen, um dann endlich einzuziehen ins Ziel, springe ich auf. Ich rufe, dass ich mich auch nicht von denen schlagen lasse. Sie wehren sich. Ein kurzes Gefecht mit den Stöckchen. Ich verliere irgendwie.“

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Thomas Kunst: „Zandschower Klinken“

Thomas Kunst: „Zandschower Klinken“

Ein musikalischer Thomas Bernhard aus der ostdeutschen Provinz. Literarischer Hochgenuss.

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Das Leben auf dem Lande wird seit kurzem, und vielleicht auch wegen der Home-Office-Covid-19 Situation, idealisiert. Viele Gegenwartsromane greifen auf diesen Topos zurück. „Zandschower Klinken“ zerschneidet diesen Romantismus jedoch gekonnt und mit sprachlicher Hochgeschwindigkeitsrhythmik. Statt eine Großstädtler-Brille aufzuziehen und ein imaginäres Zurück-zur-Natur zu feiern, artikuliert Thomas Kunst auf hochversierte Art und Weise die ländliche Tristesse und die Gegenmaßnahmen, die die Individuen inszenieren, um nicht vor Langeweile und Isolation einzugehen.

„Ich sage in der sich allmählich ausbreitenden Dämmerung das Alphabet auf. Wenn beim Aussprechen der Buchstaben M, P und Y jeweils links oder rechts ein Baum am Straßenrand steht, komme ich in dieser Nacht noch unzählige Kilometer weiter. Abweichungen von zwei bis fünf Fuß sind erlaubt. Ich will ja nicht kleinlich sein. Fast die gleiche Anzahl Bäume zu beiden Seiten der Fahrerkabine. Landstraße, Autobahn, Landstraße, aber in umgekehrter Reihenfolge. Ich glaube, ich mache das jetzt jedes Wochenende. Die Welt ist das Größte auf der Erde.“

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Dietmar Dath: „Dirac“

Dietmar Dath: „Dirac“

Unverbindliche Verbindlichkeiten …

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Sehr unanschaulich geht es bei Dietmar Dath zu. Die Begeisterung für Dirac basiert auf einem nicht näher begründeten Nimbus eines fast außerirdischen, von UFOs auf die Erde gebrachten Genies. Die Näherungsmethode, das Leben und Wirken von Paul Dirac zu verstehen, beruht auf Bewertung und Beurteilung und identifikatorischer Vereinnahmung für die eigene gute Sache, nämlich sich aus allem herauszuhalten. Dirac wollte sich aber nicht heraushalten. Er wurde durch das tönende Lob ausgeschlossen. Seine Selbstkritik fand kein Gehör, und Daths Heiligenlegende stimmt in diesen Chor mit ein, ohne etwas von der Verzweiflung und Beunruhigung zu transportieren, die Dirac in all seinen Spätwerken und Altersaufsätzen aufweist.

Es wäre schade, wenn Dietmar Daths Dirac daran hindert, Dirac selbst zu lesen und verstehen zu wollen. So wie Dirac von der Forschungsgemeinde mit Lob zum Schweigen gebracht wurde, handelt Daths Roman fast ausschließlich nicht von Dirac und fügt sich deshalb bruchlos in das jubelnde Missverständnis ein und grenzt am Ende sogar an Sensationsjournalismus.

Heike Geißler: „Die Woche“  

Die Woche: Roman

Ein Text der vollendeten Tristesse.

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„Die Woche“ als Roman zu bezeichnen, ist bereits eine gewagte Deutung. Aus einem Text besteht das Buch sicherlich. Heike Geißler setzt sich mit der Leipziger Gegenwart auseinander, mit den Montagsdemonstrationen auf dem Augustusplatz, mit Mietenteignungen, der gefährdeten Gesundheit ihrer geborenen und ungeborenen Kinder, mit Baustellen, Protesten, mit Zitaten und Querverweisen, dem Tod und Ende der DDR. Eine Handlung besitzt der Text aber nicht. Es ist der ‚stream of consciousness‘ einer sich ihrer Besessenheit bewussten, selbstkritischen Nachrichtenleserin:

„Und ich werde ihm [meinem Mann] sagen, ein Nachruf auf mich könnte lauten: Ungeachtet der konkreten Situation, in der sie lebte, entschied sie sich dafür, in den Chor der zeittypischen, verfügbaren und folglich leicht abrufbaren Klagen einzustimmen. Sie war nicht einfallsreich im Erfinden neuer Klagen. Egal, wie sehr sie nachdachte und sich umschaute: Sie konnte keine neuen Beschwerden, Anmerkungen, Wünsche liefern. Oder nur sehr wenige.“

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Emine Sevgi Özdamar: “Ein von Schatten begrenzter Raum”

Emine Sevgi Özdamar: "Ein von Schatten begrenzter Raum"

Authentische Selbstbeschreibung: Erschütternd und ermüdend zugleich.

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Bachmann-, Kleist-, Fontane-Preisträgerin Emine Sevgi Özdamar taucht in ihrem Roman „Ein von Schatten begrenzter Raum“ in die Untiefen der eigenen Laufbahn und Künstlerverwirklichung ein. Der Roman ist mehr ein Dokument, eine Zeitreise durch das politisierte, rebellierende, nach Authentizität und Relevanz strebende Künstler- und Theatermilieu der 60er, 70er, und 80er Jahre rundum Benno Besson, Matthias Langhoff, Claus Peymann und Ruth Berghaus. Die Protagonistin, eine Ich-Erzählerin, startet ihre Reise auf einer der Türkei vorgelagerten Insel im Mittelmeer, von der aus Lesbos, die griechische Insel, zu sehen ist:

„Und von beiden Küsten aus sehen die Menschen jeden Abend die Lichter der anderen Küste, an der ihre Großeltern gelebt haben, und wenn ein Grieche vor Lesbos ertrinkt, taucht seine Leiche hier an dieser türkischen Insel auf, und wenn ein Türke hier ertrinkt, taucht seine Leiche vor Lesbos auf. Die Winde und das Meer tauschen die Toten und bringen sie zu ihren Ursprungsorten.“

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Tomer Gardi: „Eine runde Sache“

Tomer Gardi: „Eine runde Sache“

Literarischer Blindgänger. Schade – nach gutem Anfang, ein schwaches Ende.

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Tomer Gardi, nominiert und auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse, legt mit „Eine runde Sache“ einen seltsamen Roman vor, der vielversprechend beginnt, interessante Wagnisse eingeht, um dann sehr schwach, beinahe nichtssagend zu enden. Es ist ein janusköpfiges Gewebe aus historisch verbürgten und imaginierten Vorgängen, die von einem wortsprachlichen, orthographischen Abenteuer eingeleitet werden. Der Zusammenhang liegt nicht auf der Hand. Die innere Spannung des Textes dreht sich um Emigration, Kunst, um Ausdruck, Fremd- und Zuhause-Sein. Trotz offener Lektüre, interessiertem Sich-Einlassen erwies sich der Roman als heiße Luft rundum Nichts.

„So viele Versionen, so viele Perspektiven. Und auch Gespräche zwischen den Besucherinnen und Besuchern. Und die Gemälde von Raden Saleh, und die Beschriftungen unter den Bildern. Irgendwann spürte ich den Drang, mit all dem etwas zu machen, die vielen Details zu einem Ablauf zu verbinden, um sie mir selbst zu erklären und sie zu verstehen. Ich hab auch Eigenes hinzugefügt. Um Lücken zu füllen oder zu verschönern. So bin ich nun mal, wie ich hier mit verschränkten Armen dasteh, schweigend, neben dem Insektendetektor.“

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Katerina Poladjan: „Zukunftsmusik“

Katerina Poladjan: „Zukunftsmusik“

Abgeklärte Resignationslosigkeit … eine literarische Atempause als Ruhe vor dem Sturm.

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Einer Erfahrung ein historisches Bild zu verleihen und jenes aus dem Fluss der Zeit herauszubrechen, gehört zu den erstaunlichsten Wirkungsweisen eines Romans. Die Verwandlung von Kontinuität in Diskontinuität erlaubt es, rückläufig wieder anzuschließen und aufzuschließen, und Kommunikationspotential zu erschließen, die sonst anderweitig vor sich hinschlummern müssten, ohne ihren Erfahrungsgehalt entfalten zu können. Katerina Poladjan hat den 80ern Jahren der kurz vor ihrem Ende stehenden Sowjetunion ein Kleinod entrissen und in „Zukunftsmusik“ zu einer Allegorie auf Veränderung verwandelt. Der Roman glänzt und schimmert und funkelt.

“Die Sonne stand tief über dem Wasser des schwarzen Flusses, auf der anderen Seite leuchtete die Fabrik von elektrischem Schein umkränzt, davor das abschüssige Ufer. Es war warm wie an einem Sommerabend, und doch lagen zwischen den Hügeln auf den Rasenflächen Schneereste. Im Osten das Wäldchen, ein dunkler Schattenriss, und ungewöhnlich kleine Kirschbäume blühten in voller Pracht unter einem wolkenlosen Himmel.”

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Louise Glück: „Winterrezepte aus dem Kollektiv“

Rezension. Louise Glück: "Winterrezepte aus dem Kollektiv"

Vom Zauber der Kommunikation: Weder schreien noch schweigen, noch flüstern.

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Louise Glücks „Winterrezepte aus dem Kollektiv handelt von Genesung, Rekonvaleszenz, Abschied und Verlangsamung. Als Stimmungsbild ergibt sich das Vergehen einer sanften Zeit inmitten eines asiatischen Steingartens. Die Sprache ist einfach. Die Worte schnörkellos. Das Druckbild übersichtlich, mehr Weiß, mehr Leerraum, entlastend, so dass die einzelnen Strophen wie ein Flüstern, Wispern im Wind wirken. Das lyrische Ich befindet sich in einer Art Wellness-Tempel mit Concierge, einer Institution, in der es Lehrer fürs Malen, fürs Nachempfinden, für Kalligraphie und Tipps für eine optimale Lebensführung gibt. Gespräche mit einem Abgereisten, mit der Schwester, über die Mutter binden das lyrische Ich zurück an eine Welt, die es so nicht mehr für es gibt.

„Eine Krankheit befiel mich,
deren Ursache man nie feststellte,
obwohl es zunehmend schwierig wurde,
Normalität vorzutäuschen,
Gesundheit oder Lebensfreude –
Mit der Zeit wollte ich nur noch mit denen zu tun haben, die wie ich waren“

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Jessica Lind: “Mama”

Jessica Lind: "Mama"

Nichts für Zartbesaitete. Schockierend gelungene Darstellung eines Traumas.

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Eine Hütte, verlassen im Wald, ohne Kontakt zur Außenwelt, ein Pärchen auf den Spuren der Vergangenheit – aus diesem Stoff werden für gewöhnlich Horror-Romane gezimmert, wie bspw. Stephen Kings „Das Spiel“, das nichts für zartbesaitete Gemüter ist. Jessica Linds Roman „Mama“ ist es auch nicht. Nur aus andersgearteten Gründen. Verbreitet Stephen King in seinen erbarmungslosen Schockern mit etwas billigen, nichtsdestotrotz wirksamen Mitteln Horror, gelingt Lind dies ohne jedwede Effekthascherei. Lind schreitet vielmehr den schmalen Grat der eigenen Zivilisiertheit ab, gerät aber hier und da aus dem Gleichgewicht und lässt einen teilweise übers Unheimliche und Bodenlose taumeln, mit rudernden, ausgebreiteten Armen einer sinnlos gewordenen Sinnsuche. Lesend bleibt man in ständiger Angst um Josef und Amira und ihre Tochter Luise befangen, um jene Familie, die sich in der besagten Hütte von ihrem Stadtleben zu erholen sucht.

„Josef lässt sich darauf ein, abzuwarten, solange Amira im Bett bleibt und sich ausruht, während er den Koffer und die Taschen ausräumt. Die Fahrt hat sie mehr angestrengt, als sie zugeben wollte. Ihr war schwindlig, sie hat kurz das Bewusstsein verloren, der Rest war eine Halluzination, ein Traum. Sie hat niemanden gesehen, nicht einmal die Tür hat sie geöffnet. Seit sie schwanger [mit Luise] ist, sind ihre Träume lebendiger. Sie träumt von der Geburt. Sie träumt vom Wald.“

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Michel Houellebecq: “Vernichten”

Michel Houellebecq: "Vernichten"

Kraftlos improvisiert … gähnend ungelenkes, schlecht komponiertes Alterswerk

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Über Michel Houellebecq müssen nicht viele Worte verloren werden. Zu bekannt, zu verehrt, zu kritisiert, über den Klee gelobt, beinahe gefürchtet und doch immer wieder gerne zitiert, dass man schlicht vergisst, dass es sich um einen Schriftsteller handelt, der sich lediglich in die französische Literaturtraditionen einzuordnen versucht. Es ist ihm nie bislang nicht überzeugend gelungen. Die Beobachtungen blieben stets zu schlicht, der Stil zu journalistisch, die Sprache zu einfach, die Form beliebig. Houellebecq musste deshalb in der Vergangenheit stets schockieren, um auf sich aufmerksam zu machen. In „Vernichten“ schockiert er nicht mehr. Er lamentiert zusammen mit seinem Protagonisten Paul.

„Dabei war er [Paul] in diesen Büros nie sehr glücklich gewesen, zumindest nicht vor seiner Begegnung mit Bruno, aber es ist nicht die Tatsache, dass man an einem Ort glücklich war, der die Aussicht, ihn zu verlassen, schmerzhaft werden lässt, sondern allein die Tatsache, ihn zu verlassen, einen Teil seines Lebens hinter sich zu lassen, mag er auch noch so bedrückend oder gar unangenehm gewesen sein, zu sehen, wie er sich im Nichts auflöst; mit anderen Worten, es ist die Tatsache, dass man älter wird.“

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