Leïla Slimani: “Das Land der Anderen”

Leïla Slimani: "Das Land der Anderen"

Karge, unbeteiligte Wiedergabe einer Familie in der Einöde eines von Gewalt zerrissenen Landes

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Leïla Slimani beschreibt mit journalistischer Kälte und unpoetischer Beliebigkeit, die Lebensschicksale vieler Menschen zugleich; Mathilde, die einen marokkanischen Oberst heiratet; Amine, dieser marokkanische Oberst selbst, der Olivenbäume auf unfruchtbarem Boden züchten möchte; Selma, die Schwester Amines, die den Traum von einem freien, sorglosen Lebens als Partygirl frönt und sich aus Angst vor ihrem Bruder mit einen alten, homosexuellen Soldaten verheiraten lässt; eine dement werdende Mutter aus Meknès, einen Gynäkologen, Dragan, aus Ungarn und seine üppige, walkürenhafte Frau Corinne, die sich Kinder wünscht, aber keine bekommt. Die Liste könnte noch lange fortgesetzt werden. Die Fülle jedoch ersetzt nicht das Detail. Die Ereignisse jagen aneinander in kaum zu überbietender Beliebigkeit. Vor allem fehlt Empathie, der Wunsch, tiefer zu blicken, mehr zu verstehen, von Ängsten, Hoffnungen und Wünschen zu erzählen.

„In der Nacht hatte sie [Aicha, Mathildes Tochter] einen Traum gehabt, so lang wie die Schale der Äpfel, die Mathilde mit zusammengepressten Lippen pellte, um eine möglichst lange Girlande aus der Haut der Frucht zu machen.“

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Constantin Schreiber: “Die Kandidatin”

Achtung. Erfundene Fakten erzeugen keine Geschichte. Unbedingt Finger von lassen.

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Wer Trickbetrügern auf den Leim geht, hat das Nachsehen. Wie manche Scalper auf Ebay leere Verpackungen von beliebten Elektrogeräten wie der Playstation 5 verkaufen und ihren Reibach machen, so zieht hier Constantin Schreiber einen grinsend über den Tisch. Und ja, er hat recht. Ich habe das Buch gekauft und gelesen, fassungslos, bis zum Ende, in der irrigen Hoffnung, den letzten Rest an Anstand zu entziffern, zwischen den Zeilen erlesen zu können. Aber nein. Das Buch ist, was es ist. Reinste Abzocke. In Babysprache eines untalentierten Rappers aus dem Wohlstandmilieu der sich mit sich selbst langweilenden und funktionslos gewordenen Bildungsbürger wird ideenloser Sprachsalat zum Besten gegeben:

„Auf einem sehr verwackelten Handyvideo rennt eine Frau in blutgetränkter Bluse mit ihrem Baby im Arm über eine Straßenkreuzung, offenbar beim Versuch, sich in Sicherheit zu bringen. Ein Soldat steht hinter einer Hauswand ein paar Meter weiter. Er springt hervor, holt mit dem Maschinengewehr aus und rammt es der Frau ins Gesicht. Sie fällt auf die nasse Straße, das Baby wird durch die Luft geschleudert und landet hart auf dem Bordstein. Es bleibt regungslos liegen.“

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Christoph Hein: “Guldenberg”

Christoph Hein: "Guldenberg"

Ein besorgter Bürger meldet sich blass zu Wort – bieder, fad und traurig.

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Christoph Hein legt mit „Guldenberg“ eines der blassesten und langweiligsten Zeitdokumente vor, die man sich nur vorstellen kann. Der Roman handelt von einem Städtchen, oder Dörfchen namens Guldenberg. In Guldenberg leben minderjährige Migranten, ein verzweifelter Pastor und seine jüdische und neugierige Haushälterin, ein Unternehmer, ein Bürgermeister, ein schwangeres vierzehnjähriges Mädchen, eine bauernschlaue Oma und viele andere, teils ausländerfeindliche, teils opportunistische, rachsüchtige, karriere-orientierte Kleinbürger und Kleinbürgerinnen. Das Buch beschreibt das Unbehagen der Dorfbewohner, das die Anwesenheit der Migranten in ihnen auslöst. Es behandelt Angst, Kleingeistigkeit, Rachsucht und Fremdenfeindlichkeit. Hein beschreibt die Geschehnisse mit erbarmungsloser und ideenloser Faktizität:

„Der neue Besitzer hatte kein Glück mit ihm [dem Kolonialwarenladen]. Sein Umsatz brach heftig ein, als hier der erste Supermarkt aufmachte, und als dann noch ein zweiter dazukam, musste er das Geschäft aufgeben. Er hatte zwar immer die bessere Ware, aber die Supermärkte verkaufen alles viel billiger. Zu ihm kam man nur noch, wenn man etwas vergessen hatte, ein Glas Senf oder eine einzelne Zitrone.“

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Iris Hanika: “Echos Kammern”

Echos Kammern

„Glück ist, wenn man ganz bei sich ist“ … sprachlicher Höhepunkt der Gegenwartsliteratur

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Iris Hanikas Roman handelt von zwei Frauen und zwei Städten, von Sophonisbe und Roxana, und von Berlin und New York. Es geht um Sinn, Enttäuschung, Liebe, Karriere, Beruf und Freunde, vor allem jedoch geht es um den Versuch, seinen Ort in der Welt zu finden, seinen Beobachtungsstandort zu kennzeichnen, ja, eine Sprache zu erwerben, in der die Dinge nicht sofort von jeder Bedeutung entleert sind.

Wie dieser Umriss einer Inhaltsgabe zeigt, eine besondere Geschichte wird nicht erzählt. „Echos Kammern“ ist mehr die Zeit im Bild der Sprache einer Generation, die noch nicht mit Smartphones und dem Internet aufgewachsen ist, eine Generation, die also hilflos unvorbereitet auf die sozialen Medien mit Konsternation und innerer Emigration reagiert, nicht wertend, einfach überrascht, überholt, fragwürdig geworden.

„Einmal in die Welt hinausgerufen, schallt er [der Plan] zurück, verstümmelt zwar, doch die Anmutung seiner Herrlichkeit bleibt, flirrend, schillernd, glitzernd; eine Ahnung davon, wie schön es hätte werden können, nicht nur das, wofür man den Plan gemacht hatte, sondern überhaupt alles – wie schön alles hätte sein können, die ganze Welt, das ganze Leben.“

Meiner Ansicht nach ein sehr lesenswertes Buch für alle. Die verdichtende Erzählhaltung, der Witz, der Schmerz, das Lyrische und Syntagmatische erzeugen eine eigene Einheit, einen modernen Hymnus zwischen Wiederkunft und Vergessen, zwischen Verlorenheit und Selbstbehauptung. Die Protagonistinnen geben Hoffnung. Die Liebe zu Berlin ist ungebrochen, ein Berlin-Roman, der der Utopie und der Geschichte der Stadt gerecht wird, im Sinne von Walter Benjamins „Berliner Kindheit um 1900“ und seinem Begriff vom Flaneur und dem in sich verwobenen Verheißungen des unvollendet gebliebenen Passagenwerks.

Wer dieses Buch mag, mag Clarice Lispectors „Die Sternstunde“ und Ingeborg Bachmanns „Malina“ und auch von Max Frisch „Der Mensch erscheint im Holozän“ oder eben, traditionell, Rainer Maria Rilkes „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“, von dem ebenfalls implizit das wundervolle Buch von Hanika handelt. Komparativ ähnelt es zudem sehr Christa Wolf „Stadt der Engel“, nur eben handelt es von Bagels und Starbucks in Manhattan und nicht wie Wolfs Roman von Racoons in Los Angeles.

Sebastian Fitzek: “Der erste letzte Tag”

„Ja, super. Eine Salamipizza und alles ist vergessen.“ – Literarisches Aspirin.

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Das neue Buch von Sebastian Fitzek liest sich schnell, hat Illustrationen, und handelt von einem äußerst selbstkritischen Ich-Erzähler. Dieser Roman als Roadmovie angelegt, passend zur Vorabendunterhaltung, schnell und auf Effekt hin in Szene gesetzt handelt von einem Mann und einer Frau, die unterschiedlicher und gleicher nicht sein könnten. Beide veranstalten kompletten Unsinn, manipulieren sich gegenseitig und zeigen sich ihre Grenzen und Schwächen auf.

„»Okay, was sagt mir das jetzt?« »Dass wir hin und wieder einen Schuss vor den Bug brauchen, um unser System zu resetten. Stell dir vor, wir würden jetzt einen Unfall bauen …«“

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Bernardine Evaristo: “Mädchen, Frau etc.”

Eine unpathetische Hymne auf die Vielfalt, oder: die Schnelligkeit des Zeitgeistes ertragen lernen.

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Bernardine Evaristo bietet mit ihrem Roman „Mädchen, Frau etc.“ eine eigenartige und bemerkenswerte Kommunikation an. Ihr Roman handelt von zwölf Frauen, verwoben, fern wie nah, verwandt, über mehrere Ecken befreundet, bekannt mit einer Theatermacherin namens Amma, die über ihren rebellischen Schatten springt und ein Theaterstück namens „Die letzte Amazone von Dahomey“ im National Theatre in London inszeniert. Dieses Theaterstück verbindet all diese Schicksale auf vielfältige Weise, bringt jene zusammen, die sich sonst nie kennenlernen oder über den Weg rennen würden.

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Judith Hermann: “Daheim”

Friedliche Zeilen in entfremdeter Zeit – unbedingt lesenswert.

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Judith Hermanns Roman handelt von einem Fluchtstück, Neubeginn, von Meer, Dünen und den zarten Zeilen wortkarger Freunde, die einer heimatlosen Frau eine Ahnung von dem geben, was andere ein Zuhause nennen. Während sich die Tochter auf Weltreise befindet und ihre Koordinaten durchgibt, der Ex-Mann auf die Apokalypse wartet und sich in seinem Archiv verkriecht, erschließt sich die Protagonistin neue Welten direkt vor ihrer Tür, scheut nicht den Schmerz, noch die Enttäuschung.

“So weit weg am Rand des Kontinents und da, wo die Dinge sich verschärfen. Ihre Koordinaten entfernen sich, sie tritt in ein Gewässer ein, das ungefähr ist und auf den Landkarten nicht mehr vermerkt. Als wäre die Welt eine Kugel, die aufbricht, sich in ein Universum ergießt.”

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Steffen Kopetzky: “Monschau”

Altmännerphantasien ohne Schwung und Elan – züchtig und herzlos bis zur letzten Zigarette.

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Eine Zeitreise in die Eifel der frühen 1960er der Bundesrepublik Deutschland. Es geht um Alt-Nazis, Aufarbeitung der Vergangenheit, um das Wirtschaftswunder, um Wernher von Braun, um alte Männer, die zu viel essen, humpeln, Kriegsverbrechen begangen haben, um geläuterte Nazi-Ärzte und NSDAP-Mitglieder, um einen griechischen Einwanderer, der sich in eine Sartre lesende, Beauvoir zitierende Konzern-Erbin verliebt, also um das einfache und doch so schwierige Leben der Schönen und Reichen der bunten Nachkriegszeit, die gerne Jazz hören und mit Pocken und Krankheiten nichts zu tun haben möchten.

Karneval, Astronomie, viele historische Details über Kennedy, über Junghans Produkte, über Unwetter in Hamburg und die Etappen einer Pockenerkrankung täuschen nicht darüber hinweg, dass der allwissende Autor konstruiert, die Geschichte auf dem Reißbrett zusammengezimmert und maßstabsgetreu umgesetzt hat. Eiskalt, gerade herzlos wird die biedere Geschichte der beiden Protagonisten erzählt, Vera und Niko. So vorhersehbar, so geradlinig wie eine Reportage in Spiegelmagazinlänge wird die Sprache durch die Story gepeitscht, dass einem die Lust am Lesen vergeht wie bei diesem Satz:

“Beiden war klar, dass sie sich jetzt umarmen würden. Sie hatten ja vorher schon so schön beieinandergestanden. Da war es noch nicht gegangen. Jetzt musste es sein.”

Wer Altmännerliteratur mag, ohne Poesie, ohne Lebensfreude, wer sich züchtige Unterhaltung à la ‚Mad Men‘ mit einem Aquavit zu Gemüte führen will, also wer auf Emotionen, Lyrik, auf Zwischentöne verzichten möchte, die Welt in Schwarz-Weiß liebt, der sollte zugreifen. Langweilig und professionell geschrieben. Der Roman liest sich wie eine Auftragsarbeit vom WDR, um aus der Distanz aktuelle Probleme sozialkritisch zu beleuchten, ohne auf den kleinen Thrill zu verzichten, dass hinter den hellen Zimmern einer Villa ja rehäugige Frauen auf Rettung durch ihre kretischen Ritter warten.

Eine klischierte Männerphantasie mit gebremstem Schaum. Ich empfehle von Alfred Andersch ‚Winterspelt‘ oder ‚Kirschen der Freiheit‘ stattdessen, oder Wolfgang Hildesheimer ‚Nachtstück‘, und wenn es gar nicht anders geht und der Niedergang eines Unternehmens interessiert, eben das Original nämlich Thomas Manns ‚Buddenbrooks‘, oder doch lieber gleich ‚Alexis Sorbas‘ von Nikos Kazantzakis, um wieder Freude am Lesen zu bekommen. ‚Monschau‘ ist nur ein komponiertes, herzloses Retortenstück.

Amanda Gorman: “The Hill We Climb”

Nur der Inaugurationsvortrag und dazu noch in miserablem Deutsch (siehe unten für Beispiel).

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Ganz unabhängig von aller politischen Euphorie oder Dystopie, von einer Parteilichkeit abgesehen. Ich habe mir diesen Text gekauft in der Hoffnung, noch wenigstens ein, zwei Gedichte, eine längere Version, überhaupt irgendetwas Poetisches/Lyrisches zu erhalten. Weit gefehlt. Es handelt sich nur um eine deutsche Übersetzung des frei erhältlichen englischen Vortrages anlässlich Bidens Inauguration. Wie immer man diesen Augenblick für sich beurteilt, es handelt sich mehr um eine Rede, eine Hoffnung, eine Hymne, im Vergleich eben zu Martin Luther King Jr. „I have dream“ … von Literatur/Lyrik/Kunst würde ich nicht reden. Das Politische, Rhetorische drängt sich zu sehr auf.

Zur deutschen Übersetzung lässt sich nichts Gutes sagen. Ich gebe ein Beispiel. Im Englischen heißt es: “We will not be turned around // or interrupted by intimidation, // because we know our inaction and inertia // will be the inheritance of the next generation.”

In der Übersetzung wird daraus: „Wir werden uns von Störmanövern // nicht auf- und nicht abhalten lassen, // denn Trägheit und Untätigkeit // gäben wir als Erbe an die Nachgeborenen weiter.“

Nicht nur die ärgerliche Reminiszenz an Brechts „An die Nachgeborenen“ (im Englischen „To those Born After“), die hier völlig fehl am Platz ist, aus so vielen Gründen, viel gravierender das militärische „Störmanöver“, das im Englischen fehlt und der Sanftheit und Zurückhaltung des Originals gar nicht entspricht. Die Übersetzung ist eine Minutenarbeit. Die Lektüre auch. Ich wiege nicht Kunst mit Geld auf. Wer für eine schlecht übersetzte politische Gospel Geld hinlegen möchte, ist herzlichst dazu eingeladen. Ich war enttäuscht, und ja, ich hätte mir die Produktbeschreibung genauer durchlesen sollen.

Helga Schubert: “Vom Aufstehen”

7 von 5 Sternen! Auf Taubenfüßen brillant – ein wunderschönes poetisches Buch übers Altwerden.

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Helga Schubert schreibt über ihr Leben, über das schwierige Verhältnis mit ihrer Mutter, über die Sorgen, die Politik, übers Leben zwischen den Staaten, die Wende, den Krieg, die Flucht, darüber, wie sie zum ersten Mal durch das Brandenburger Tor ging, wie sie lebt, schreibt, denkt und fühlt, und Finnland das Land der Sehnsucht ihrer hartherzigen Mutter gewesen ist.

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